Yvonne Franke
Jamaica Kincaid wurde berühmt, als 1978 im Magazin New Yorker ihr Text namens "Girl" veröffentlicht wird. "Girl" besteht aus einem einzigen Satz, der 600 Wörter lang ist. Wie lange mag sie wohl an dieser Komposition gearbeitet haben? Zur Strafe hatte Kincaids Mutter, alle Bücher, die die damals jugendliche Jamaica Kincaid mühsam zusammengetragen hatte, aufeinander gestapelt, mit Spiritus übergossen und angezündet. Seitdem, schreibt Kincaid, versucht sie womöglich, all diese Bücher durch ihr eigenes Schreiben zurückzuholen, arbeitet sich ab an Form und Inhalt, bis alles perfekt ist. Eines dieser perfekten Bücher ist "Mein Bruder", ein autobiografischer Text, der dennoch alles sein kann; poetisch, musikalisch, eine soziale Studie, eine psychologische Selbsterörterung und so schonungslos, wie ein gut verschlossenes Tagebuch. Es ist ein Erinnerungsbuch, dem Leben ihres 13 Jahre jüngeren, an AIDS verstorbenen Bruders gewidmet und dem Leben, dem Kincaid selbst entkommen konnte, als sie mit 16 Jahren Antigua verließ. Und es ist dabei immer gegenwärtig und stellt ganz offen und laut Fragen, die man sich sonst kaum traut, sich selbst im Geheimen zu stellen. Während dieser junge Mensch stirbt, den sie kaum kennt, weil sie ging, als er drei Jahre alt war, sucht sie nach einem Gefühl für ihn und für die gemeinsame, immer grausamer gewordene Mutter. Liebe ist es nicht, betont sie. Kincaids Sprache ist außergewöhnlich rhythmisch, jeder Gedankengang hat einen Refrain, versichert sich seiner selbst und wird bisweilen zum Mantra. "Dieses Kleid trug ich zur Beerdigung meines Bruders. Ich kaufte es mit dem Gedanken an die Feier, die anlässlich der Auszeichnung meines Mannes stattfinden sollte, doch ich trug es bei der Beerdigung meines Bruders; und als ich es bei der Beerdigung anhatte, dachte ich mir, ich werde dieses Kleid nie wieder anziehen, ich kann dieses Kleid nie wieder anziehen und es ist wahr: Ich habe dieses Kleid nie wieder angezogen." Ich empfehle die wunderschöne Ausgabe aus dem noch jungen aki Verlag, in dem einzelne Antigua-kreolische Sätze im Original belassen wurden und im Anhang übersetzt zu finden sind, was dem Ganzen einen dokumentarischeren Charakter gibt. Klug und einfühlsam gelöst, wie auch die gesamte Übersetzung von Sabine Herting, die, wie man von ihren Übersetzungen einiger Romane von Salman Rushdie und Kazuo Ishiguro weiß, jeder Aufgabe gewachsen ist.