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Buchdoktor

Posted on 20.8.2022

Željko/Jimmy wächst als Einwandererkind mit Eltern auf, die beide mehrere Arbeitsstellen haben. (Vater Bauarbeiter und Hausmeister, Mutter mit mehreren Putzstellen.) Samstags sind seine 8jährige Schwester Ljuba und er entweder gemeinsam mit den Eltern an deren Arbeitsplatz oder sie erledigen andere Arbeiten für die Familie. Dass ein Kind samstags keine Lust zur Arbeit hat, ist nicht vorgesehen. Durch die Professorin Edita Gruber, bei der Željkos Mutter putzt, wird ihm bewusst, in welch märchenhaften Verhältnissen manche Leute leben. Als auch Jimmy eine bezahlte Arbeit bei Grubers bekommt, öffnet ihm das den Zugang zu Grubers umfangreicher Bibliothek, aus der er alles ausleihen darf, das ihn interessiert. Edita Gruber, ab jetzt Martha genannt, öffnet dem wissbegierigen Jungen kurz eine Tür in die Welt der Akademiker und Villenbesitzer, zu der er nie gehören wird – und sie wird seine Geliebte. Ein Schnitt führt uns Jahre später an Jimmys Studienort München, dem als Schüler weisgemacht worden war, dass gute Leistungen bei Kindern wie ihm nur „Glück“ wären. Bildungssaufsteiger*innen wie er wurden damit entmutigt, dass andere Schüler begabt wären, man selbst sei nur fleißig und hätte darum keine Empfehlung zum Gymnasium verdient. Jimmys Bruder macht eine betriebliche Ausbildung und sieht nicht ein, wieso das Studium des Jüngeren die Familie „noch ärmer machen“ sollte. Erlebnisse mit dem von Jimmy verehrten Literaturprofessor Alex Donelli wechseln im zweiten Handlungsstrang ab mit Erinnerungen an Jimmys Kindheit, die geprägt war von Respektlosigkeit gegenüber Menschen, deren Namen mit Sonderzeichen geschrieben werden. Jimmy muss schließlich schmerzhaft erfahren, dass er seine Herkunft nicht „weglesen“ kann, weil ihm verborgene Codes der akademischen Elite fehlen, um die gläserne Decke zu durchstoßen. Die Beziehung zu Martha blüht wieder auf, doch Jimmy muss erkennen, dass seine 40 Jahre ältere Geliebte nicht jünger wird. Martin Kordić verknüpft die Geschichte eines Bildungssaufsteigers und seiner ungewöhnlichen Liebe zur erheblich älteren Mentorin mit den Lebensbedingungen von Menschen, die sich gegenseitig an den Sonderzeichen ihrer Namen erkennen. (Es ist bezeichnend, dass „Kordić“ nicht auf allen Webseiten korrekt dargestellt wird.) Als Bildungsaufsteigerin finde ich Željkos/Jimmys Familie („deutsch, kroatisch, katholisch“) außerordentlich treffend gezeichnet. Besonders anrührend fand ich Jimmys Rückblick auf Dinge, die er als Jugendlicher zwar feinfühlig wahrnahm, deren Bedeutung ihm zu dem Zeitpunkt aber noch nicht klar sein konnte. Ein wunderbar liebenswerter Roman, der den Jugoslawien-Krieg und die NSU-Morde nicht auslässt. Die Rolle des minderjährigen Maskottchens von Bildungsbürgern lässt mich allerdings trocken schlucken. Hätte die Geschichte mit einer durchschnittlicheren Mentorin nicht ebenso gut funktioniert?

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