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Buchdoktor

Posted on 9.8.2022

Marlies und Lothar Behnke würden gern aus ihrem zu großen Haus in ein komfortables Senioren-Apartment ziehen – wenn sich eins ihrer drei Kinder endlich entscheiden könnte, das Elternhaus in Tallstedt zu übernehmen. Hamburg liegt in Sichtweite, das andere Flussufer scheint für die Tallstedter jedoch eine ferne Welt zu sein. Sohn Leon hat sich trotz sehr guter Abiturnote gegen ein Studium entschieden und arbeitet in Berlin als Rettungssanitäter. Außerdem ist er erfolgreicher Entwickler von klassischen Brettspielen und hilfsbereiter Nachbar für den betagten Herrn Haffner. Den einzigen Behnke-Sohn konnte ich mir so gar nicht in einer Kleinstadt an der Elbmündung vorstellen. Die älteste Tochter Katja hat sich gleich nach dem Abitur zum Bleiben entschlossen und leitet heute die kleine Stadtbibliothek. Das Ende ihrer Ehe stellt überraschend infrage, ob Katja bis zum Renteneintritt in Tallstedt leben wird. Auch Tochter Milena als alleinerziehende Mutter einer kleinen Tochter fand es bisher wenig attraktiv, ihre vertraute Umgebung zu verlassen. Bis sie David aus Münster kennenlernt, der für seine große Liebe weder umziehen wird noch Milenas Familientraditionen übernehmen. Spürbar geprägt von der Covid-Pandemie müssen alle fünf Behnkes einen Schritt in die Zukunft wagen, selbst wenn sie nichts lieber täten, als die Dinge auf sich zukommen zu lassen. Das Schicksal des Elternhauses (mit allen Erinnerungsstücken darin) bildet den Aufhänger und scheint die Situation nur zu komplizieren. Geradezu bilderbuchmäßig zeigt sich das fiktive Tallstedt als Ort, aus dem es die junge Generation zur Ausbildung in Großstädte im In- und Ausland zieht. Spätesten nach dem Examen verliert die ferne Großstadt ihren Reiz, wenn vertraute Bindungen Jobsuche und Familiengründung zu erleichtern scheinen. Selbst im beschaulichen Tallstedt kann man sich als Lehrer, Apotheker oder Bauunternehmer niederlassen, auch wenn es offenbar immer nur einen Vertreter jeder Branche geben kann. Behaupte niemand, Bücherei, Buchhandlung und das jährlich vergebene Stipendium für einen Stadtschreiber seien kein Kulturangebot. Volker Jarcks zweiter Roman beginnt mit einer Besetzungsliste in Skizzenform, die die - zahlreichen - Figuren ihrem Wohnort und Wirkungsbereich zuordnet. Wer sich daran erinnert, wie in „Sieben Richtige“ alle Figuren miteinander verknüpft waren, wird das zu schätzen wissen. „Robuste Herzen“ zeigt stimmungsvoll die Atmosphäre in der norddeutschen Provinz und ist zugleich Roman einer in den 70ern geborenen Generation, die die Frage vor sich herschiebt, wo eigentlich ihr Zuhause ist. Der mit der unmittelbaren Gegenwart abwechselnde Handlungsstrang „Jahre später“ zeigt die Behnkes in all ihrer Widersprüchlichkeit. Ein komplexer Generationen- und Provinzroman, den nicht nur Buchhändler*innen lieben werden …

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