Buchdoktor
Leontine und Simon bilden mit ihrer Beziehung eine Insel, von der es im Fall einer Krise keinen Rückzug mehr ins Nest ihrer Herkunftsfamilien gibt. Simon arbeitet in Brüssel angestellt erfolgreich als Grafiker, „Leo“ hat zwar an der Filmakademie als Drehbuchautorin studiert, scheint sich jedoch sicherer zu fühlen in ihrem Aushilfsjob in einer Edel-Boutique für Schwangerschaftskleidung. Dass sie ängstlich und zwanghaft wirkt, wundert nicht, wenn man erfährt, dass sie schon als Kind misstrauisch die Beziehung ihrer Eltern beobachtete und den Tod ihrer Mutter nie verarbeitet hat. Simon fühlte sich als Kind wegen seiner Ohren verlacht und begann schon als Schüler für die Operation seiner abstehenden Ohren zu sparen. Sein Vater lebt im Ausland; auch seine Mutter ist verstorben. Beide Partner haben mit rund 30 Jahren noch immer Probleme, ihren Alltag zu bewältigen – sie scheinen sich im Sturm der Realität aneinander festzuhalten. Als Simon Leo eines nachts weckt, um ihr sein neues Tattoo zu zeigen, und bald darauf verkündet, er hätte bei „Think Out Loud“ gekündigt, um als Selbstständiger eine todsichere Geschäftsidee zu vermarkten, ahnt man, dass es mit dem Paar nicht gut ausgehen wird. Simon schläft kaum noch, zappt manisch in den Sozialen Medien herum und hat offenbar keinen Schimmer davon, wie sein Start-Up zu finanzieren ist. Wer schon Kontakt zu bipolaren Menschen hatte, ahnt, dass er schwer psychisch krank ist. Durch seine Kündigung fehlt der Kontakt zu Kollegen, die ihn überzeugen könnten, dass er therapeutische Hilfe braucht. Leo googelt und protokolliert zwar Simons Verhaltensänderung. Sie hat außer vorauseilendem Verständnis kein Verhalten für die akute Krise gelernt und merkt selbst, dass auch sie Hilfe braucht. Im Rahmen seiner bipolaren Störung ist Simon an einer akuten Psychose erkrankt und fühlt sich bespitzelt, diskriminiert und gemobbt. Als Leo in höchster Not schließlich den Notarzt ruft und Simon in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen wird, hinterlässt er in der Wohnung ein Schlachtfeld und zutiefst verletzte Mitmenschen. Leo hat in der Beziehung zu Simon zu isoliert gelebt, um auf Unterstützung von Vertrauten zählen zu können - außer ihrer schwangeren Kollegin Lotte. Doch ihre Scham ist zu groß, um Lotte anzuvertrauen, wie schlimm es wirklich um Simon steht. Nur als Kolumnistin einer Zeitschrift kann sie (mehr schlecht als recht durch ein Pseudonym geschützt) über ihr Leben mit einem bipolaren Partner schreiben. Da Simon vor seiner Einweisung keinen Job mehr hatte, sind sie auf das geringe Honorar dringend angewiesen. Mit dem Blick der Drehbuchautorin, bildhaft und schonungslos in den Details, inszeniert Leo als Icherzählerin das Drama der beiden mutterlosen Partner. In drei Handlungssträngen folgt man der Vorgeschichte des Paars und Leos verzweifelter Suche nach Simon in der Gegenwart. Der Roman nimmt zunächst erst langsam Fahrt auf, weil Leo, charakteristisch für sie, schonungslos ausführlich alle Details protokolliert, als längst klar ist, dass Simon bipolar ist. Lize Spit lenkt den Blick ihrer Leser*innen auf Angehörige psychisch Kranker, die wie Leo nach einer stationären Behandlung einen Patienten nach Hause holen, der „nicht da ist“, keine Einsicht in seine Krankheit zeigt und jederzeit wieder in eine akute Krankheitsphase verfallen kann. Wer empfindlich auf Gewalt gegen Tiere reagiert, sollte auf die Lektüre verzichten.