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gwyn

Posted on 23.7.2022

«Als sie wieder mal auf der Suche nach einer Erklärung oder einer Bezeichnung für sich selbst war, stieß Fanni in einem Post im agender-Subreddit zum ersten Mal auf die Bezeichnung Meat Prison und verstand mit diesem Begriff die Entkopplung von sich und ihrem Körper.» Sie kennen uns, denn sie beobachten uns, Nerds, die sich in Überwachungskameras einhacken. Philipp Winkler erzählt die Geschichten von Fanni in Deutschland und Junya in Japan - beide suchen im Leben fremder Menschen, woran sie persönlich in der Realität scheitern: Zuneigung, Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Dabei überschreiten sie Grenzen, die für sie schon längst nicht mehr gelten. «Was Fanni am MonstroMart überzeugt hatte – neben dem vergleichsweise starken Fokus auf Data Dumps und Carding –, war der Name des Marketplaces selbst bzw. der Humor hinter der Simpsons-Referenz, den die Admins damit bewiesen. Sie gingen sogar die Extra Mile und übernahmen den Slogan in den Seitenheader: MonstroMart – Where shopping is a baffling ordeal. Fanni schätzte die Konsequenz. Immerhin riskieren die Admins, potenzielle User_innen, die die Referenz nicht verstehen, damit abzuschrecken. Außerdem kann man den Slogan natürlich auch als Metajoke über die allgemeine Shoppingerfahrung im Dark Web betrachten.» Die Handlung wird aus zwei Perspektiven erzählt: Fannis Geschichte beginnt damit, dass sie zusammen mit den Naumanns frühstückt. Eine Bilderbuchfamilie, in deren Leben sie sich hackt, die sich nach einem Wohnungseinbruch Sicherheitskameras einbauen ließen; für diese Familie entwickelt sie eine Obsession. Fanny selbst ernährt sich ausschließlich von abgepackten EPAs und Militärmenüs. Bei der Beobachtung der Familie kann sie sich entspannen, Nähe und Wärme in sich aufsaugen. Als Agender fühlt sie sich in ihrem Körper, den sie «Meat Prison» nennt, gefangen, fühlt sich keinem Geschlecht zugehörig. Sie arbeitet im Bereich Research & Development für die Home-Security-Firma namens BELL. Als professionelle Creeperin durchsucht die Wohnungen der Bell-Kundinnen, bringt dem «Überwachungsalgorithmus bei, was auf dem Kamerabild der Postbote ist, was eine Gassigängerin und was der Hund.» Welche Bewegungen gehören zum Tagesablauf und können vom Alarm ignoriert werden. Wenn am Ende der Schicht alle nach Hause gehen, bleibt Fanny allein zurück und beobachtet Menschen in ihren Wohnungen. Und sie verkauft Firmendaten im Darknet. Eines Tages beobachtet sie einen Einbruch und erlebt, wie der maskierte Täter sein schlafendes Opfer mit einem Hammer traktiert. Leider verlor ich schnell die Lust am Lesen, da der Autor den Text mit IT-Begriffen zuknallt. Ich hätte gern inhaltlich mehr über sie erfahren – was gibt es ihr, in diese Familie am Tisch hineinzublicken? «Wie jedes Mal vor dem Erheben des Hammers rasen Bilder durch seinen Kopf, so schnell, dass sie sich überlagern. Die hassverzerrte Fratze seiner Mutter. Die Ablehnung in den Augen seiner Lehrer. Dann sind die Gesichter verschwunden, und alles, was bleibt, ist immer nur ein Satz: Deru kugi wa utareru. Ein herausstechender Nagel muss eingeschlagen werden» Der zweite Strang handelt von Junya, der in Tokio lebt und sein Kinderzimmer kaum verlässt. Die Mutter stellt ihm Essen vor die Tür, er ihr später das leere Geschirr. Sie darf das Zimmer nicht betreten. Er bewirbt sich regelmäßig an einer Kunsthochschule und erhält ebenso regelmäßig eine Absage. Juny wurde in der Schule extrem gemobbt und genoss durch die alten Eltern eine beinharte Erziehung. Heute ist er ein Computernerd, zieht sich Gewaltvideos im Darknet rein und er nimmt real Rache im nächtlichen Tokio an seinen ehemaligen Peinigern, verkleidet durch Perücke und Maske – er ist ein Creeper. Seinen seinen ehemaligen Lehrer erschlägt er mit dem Hammer. Was bei Fanny mit IT-Begriffen überfrachtet ist, überfluten hier die japanische Worte und Begriffe den Text, was ebenso nervig ist. Zwei Menschen, die die Netzwelt der realen vorziehen; allerdings gibt der Autor keine Antwort zu dem, was dieses Leben für sie gibt. Zwei depressive Menschen – so weit ist die Geschichte klar. Mobbing und Cybermobbing, Datenklau, Gewalt im Netz ansehen und streamen, elektronische Überwachung auf vielen Ebenen, Verlust der Privatsphäre – Themen, die gestreift werden. Fehlende Kommunikation, bzw. eine andere Kommunikation. Die Fanny-Kapitel sind gegendert (bis zum Erbrechen), die mit dem Japaner Junya nicht, das gibt Sinn. Doch beide haben die gemeinsame Sprache der Elterngeneration zugunsten ihrer Netzsprache aufgegeben. Das nervt mich als Leserin. Weder stecke ich so tief in der Netz-Ausdrucksform, schon gar nicht in den japanischen Begriffen. Ein Glossar existiert nicht, das wäre dann wohl länger als 50 Seiten. Für mich hat sich dadurch leider kein Nerd-Sound, eine persönliche Sprache der Figur entwickelt – das war in dieser intensiven Form nicht nötig. Für mich eine Aneinanderreihung von nicht verständlichen Vokabeln. Sperrig ohne guten Sprachfluss hemmt es das Lesen. Was ist dies für ein Roman? Ein Thriller? Ein wenig, letztendlich doch nicht. Die Protagonisten werden sich niemals begegnen, es sind zwei parallele Geschichten mit offenen Enden. Ich habe viel geblättert, mich konnte der Roman rundherum nicht begeistern, obwohl ich die Grundidee recht gut finde. In den USA versteht man unter dem Begriff «Creeper» Personen, die durch fremde Wohnungen schleichen, ohne dabei bemerkt zu werden, während die Bewohner zu Hause sind. Es gibt auch einen Fall aus den USA, auf den der Autor sich in dem Buch bezieht: Der bis heute ungeklärte Mord an der US-Amerikanerin Missy Bevers, die 2016 in Texas in einer Kirche wahrscheinlich vom sogenannten «Church Creeper» mit einem Hammer getötet wurde. Philipp Winkler, 1986 geboren, aufgewachsen in Hagenburg bei Hannover. Studierte Literarisches Schreiben in Hildesheim. Für seinen Debütroman »Hool« erhielt er den ZDF aspekte-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Debüt, stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und war zum Festival Neue Literatur in New York eingeladen. Der Roman war ein Spiegel-Bestseller, wurde in mehrere Sprachen übersetzt und für die Bühne adaptiert. Eine Verfilmung ist in Vorbereitung. Er lebt in Niedersachsen auf dem Land.

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