Profilbild von gwyn

gwyn

Posted on 23.7.2022

Der Anfang: «Das Klopfen an der Tür klang nachdrücklich. Achtmal schnell hintereinander, als hätte es jemand brandeilig. Kein Bekannter, kein Handwerker oder Postbote würde so klopfen. Später sollte Manuel denken, dass man es sich genau so vorstellte, wenn die Polizei vor der Tür stand. Ein paar Sekunden lang betrachtete er den blinkenden Cursor am Ende des letzten Satzes. Es lief gut heute Morgen, besser als in den letzten drei Wochen. Er gab es ungern zu, aber das Schreiben fiel ihm leichter, wenn er allein zu Hause war und seine Arbeit nicht zu festen Essenszeiten unterbrechen musste; wenn er sich einfach treiben lassen konnte. « Als der bekannte Schriftsteller Manuel Ortigosa, 52, erfährt, dass sein Ehemann Álvaro Muñiz de Dávila bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist, eilt er sofort nach Galicien, wo der Unfall geschah. Eigentlich hätte Álvaro geschäftlich in Barcelona sein müssen. Was hatte er in Galizien zu suchen? Dort angekommen, ist die Polizei auffallend schnell dabei, die Akte zu schließen; obwohl der Unfall nicht ganz sauber aussieht, werden keine Untersuchungen in die Wege geleitet. «‹Das ist unglaublich … Warum hat er das alles vor mir geheim gehalten?›, murmelte Manuel an niemand Bestimmten gerichtet. Doval und Griñán sahen einander betreten an. ‹Was das betrifft, kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen. Ich weiß auch nicht, warum Álvaro sich entschieden hat, sich so zu verhalten. Aber er hat klare Anweisungen hinterlassen, was im Fall seines Todes zu tun ist, der ja nun leider eingetreten ist.› ‹Was soll das heißen – wollen Sie damit andeuten, dass Álvaro mit seinem Tod gerechnet hat? Versetzen Sie sich mal in meine Lage! Ich habe soeben erfahren, dass mein gerade verstorbener Ehemann mir nichts von seiner Familie erzählt hat. Ich verstehe gar nichts mehr …› Álvaros Anwalt setzt sich mit Manuel in Verbindung. Nun stellt sich heraus, dass Álvaro ihn in der langjährigen Bziehung getäuscht und ein Doppelleben geführt hat. Sein Mann entstammt aus einer der besten Adelshäuser Spaniens und war der führende Kopf der Familie Muñiz de Dávila, der Graf von Santo Tomé, der das Besitztum verwaltete. Manuel nichts davon geahnt. Der Anwalt erklärt Manuel, er habe alles geerbt und soll testamentarisch bestimmt, das Familienimperium weiterleiten – nicht allzu viel Arbeit, weil dies alles über die Wirtschaftskanzlei laufe. Die Familienmitglieder erhalten weiterhin ihre monatlichen Tantiemen für ihren Müßiggang aus den Einkünften, es sei alles geregelt. Manuel ist geschockt. Die Muñiz de Dávilas empfangen ihn mit Eiseskälte und Überheblichkeit. Manuel will, auf alle Ansprüche zu verzichten, will nichts mit diesen Menschen zu tun haben. Doch er ist laut Testament an eine Dreimonatsfrist gebunden. Die Familie wünscht keine weiteren Ermittlungen in dem «Unfall». Doch Manuel will sich nicht damit zufriedengeben. Polizist Nogueira von der Guardía Civil tritt Manuel zunächst mit homophoben Sprüchen entgegen – ein grantiger Typ mit Entwicklungspotential. Denn nun frisch pensioniert, will er Manuel helfen, den Fall zu klären, weil für ihn die Sache faul ist und ihm das feudale Ausnutzen von Macht und Mangas (Vitamin B) zuwider ist, ihn die spanischen Adelsdynastien, stinkfaul, protzig, die sich aber alles erlauben können, schon immer gegen den Strich gingen. Als dritter im Bunde gesellt sich Priester Luca dazu – der beste Freund und Beichtvater Álvaros. Alles liegt in der Familie verborgen. Luca kann hierzu einiges beitragen, denn er hat bereits als kleiner Junge mit Álvaro gespielt, hat einige Familienmitglieder beerdigt. Die drei recherchieren, jeder auf seine Art, mit seinen Kontakten. Die de Dávilas häuften interessanterweise gewaltige Reichtümer während der Francozeit an. Und was geschah im Internat der Klosterschule? Traditionen, Standesdünkel, die Abgründe einer Familie, denen ihr guter Ruf mehr wert ist als das Leben der Familienmitglieder. Álvaros Vater hatte das Erbe fast in den Ruin getrieben, fast alles verprasst. Der Sohn hatte mit viel Fleiß und eigenem Kapital das Familiengebilde gerettet, wieder auf Vordermann gebracht. Warum musste er sterben? «Er hatte den Verdacht, dass sein ganzes Leben auf einer Lüge aufgebaut war.» Kunstfertig blättert Dolores Redondo eine Schar der einflussreichen Mächte auf: die katholische Kirche, der Adel mit einer selbstverständlichen Immunität bestückt, die ihnen die Gesellschaft gewährt. Einer feudalen Gesellschaft folgte damals die Diktatur, die mit dem Adel Arm in Arm ging, begleitet von der Kirche – Strukturen, die bis heute fest verankert sind. Menschen, die sich fast alles erlauben können, weil jeder Fehltritt gedeckelt wird. Gleichzeitig zeigt sich hier stimmungsvolles Galizien, landschaftlich reizvoll und rau; noch heute braucht es schwere körperliche Arbeit in der Landwirtschaft in den Tälern von Miño und Sil. Die Arbeit der Weinbauern an den Steilhängen der Ribeira Sacra ist beschwerlich. Eine wendenreiche, spannende Geschichte, organisch verwebt die Familiengeschichte mit der Kriminalgeschichte mit ausgeloteten Charakteren vor einem atmosphärischen Hintergrund. Ein sanfter Thriller, der somit nicht nur für die Freunde der Kriminalliteratur interessant ist. Am Ende wäre weniger mehr gewesen, aber insgesamt ist dieser Roman ein empfehlenswerter literarischer Thriller, ein Familiendrama. Dolores Redondo begeistert mit ihren literarischen Spannungsromanen ein Millionenpublikum auf der ganzen Welt. «Alles was ich dir geben will» stand monatelang auf der spanischen Bestsellerliste und wurde mit dem «Premio Planeta», dem höchstdotierten Literaturpreis des Landes, ausgezeichnet. 2016 gewann eben dieser Thriller «Todo esto te daré», den die Autorin unter dem Pseudonym Jim Hawkins und dem falschen Titel «Die Sonne von Theben» als Manuskript zum Wettbewerb eingereicht hatte, den «Premio Planeta de Novela» für unveröffentlichte Romane. Neben dem Namen des Pseudonyms, der recht lustig ist, sei anzumerken, dass der Hauptprotagonist, der Schriftsteller Manuel Ortigosa, gerade an «Die Sonne von Theben» schreibt. Redondo wurde außerdem für den CWA International Dagger Award nominiert und war Finalistin beim Grand Prix des Lectrices de ELLE. Sie wurde 1969 in San Sebastián geboren und lebt heute in der nordspanischen Region Navarra.

zurück nach oben