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gwyn

Posted on 23.7.2022

Erste Seite: «Der Stein fiel nicht. Er rieselte hernieder. Schwebte. Langsam wie eine Feder. Und krachte berstend wie ein Fels auf den Haufen anderer Steine. Die Welt krampfte um sein nervöses Herz. Es war einer dieser Augenblicke, dachte der Sommelier, in denen sich das ganze Leben schlagartig veränderte. Von jetzt auf gleich. Eine Sekunde, und alles war anders. Ticktack. Ein einziger Schritt und dazwischen nur eine unsichtbare Linie, über die man ging, und erst im Nachhinein bemerkte man, dass sie da gewesen war. Augenblicke. So einprägsam, dass sie für ewig ein Loch ins hauchdünne Seidentuch der Seele stanzten und den Lebensweg in eine andere Richtung lenkten.» Als Benjamin Freling, Sommelier eines Luxushotels am Kaiserstuhl, eine mumifizierte Leiche in der aufgeschlagenen Wand des Weinkellers entdeckt, ist er fassungslos. Er glaubt, sein ehemaliges Kindermädchen entdeckt zu haben, das vor 20 Jahren verschwand. Eine eingemauerte mumifizierte Frauenleiche ... Die Familie bittet die Polizei, diskret zu ermitteln, solch ein Skandal könne das Haus ruinieren, insbesondere, da die Vergabe der Michelin-Sterne für den Guide Michelin bevorstehen und Benjamins Schwester auf einen zweiten Stern hoffen kann. Doch Benny lässt der Fall nicht los: In der Nacht, als seine Eltern bei einem Autounfall starben, verschwand auch sein Kindermädchen. Niemals wäre sie einfach so abgehauen, ohne sich von dem Zehnjährigen zu verabschieden! Insgesamt betrachtet ist dies ein netter, lesbarer Krimi mit interessanten Wendungen und einem überraschenden Ende. Ein Genusskrimi, in dem viel gekocht wird auf Sterne-Niveau und wir haben es mit einem Sommelier zu tun, der Weine aussucht, trinkt, sammelt und dementsprechend viel über Weine redet und sinniert – eben soweit, dass es des Öfteren auf auf die Nerven geht, das Ganze mit unterschwelliger Schleichwerbung bestückt ist. Eine Familiengeschichte, abwechslungsreich, informativ, ein Luxushotel von der Seite der Eigentümer und des Personals betrachtet. Journalisten und Foodblogger und machen ihnen das Leben schwer. So weit so gut. Die Geschichte ist stimmig, ebenso sind die wichtigen Charaktere gut erfasst. Der Krimi geht es langsam an und zieht mit der Spannung nach oben. Die Langsamkeit entsteht dadurch, dass jede neue Figur ausschweifend vorgestellt wird, anstatt sie während der Geschichte Stück für Stück aufzublättern. Das klingt manchmal so, als wenn der Autor hier seine vorher entwickelte Figurenbeschreibung in den Text einfügt. Genau das hat mich am Anfang fast dazu gebracht abzubrechen – es kam keine Stimmung, keine Spannung auf. Sobald alle Figuren aufgestellt sind, nimmt der Krimi Fahrt auf. Und ganz ehrlich, ich hatte nach der ersten Seite überlegt, das Buch wegzulegen. Gleich mehrere Metaphern machten mir Zahnschmerzen. Und das waren nicht die einzigen Klopfer, die im Laufe des Textes folgen werden. Grundsätzlich ist der Krimi gut geschrieben, drum habe ich weitergelesen. Aber immer wieder schreckte ich beim Lesen hoch. Hier geben Menschen Tierlaute von sich und andere Geräusche: Sie piepsen, schnauben, flöten, quietschen Sätze – gern würde ich mir einmal anhören, wie jemand einen Satz flötet. Metaphern des Grauens hätten einem guten Lektor ebenso auffallen müssen. Hier ein paar Beispiele: Siehe Zitat oben, erste Seite: Ein Stein, der rieselt, der dann wie eine Feder schwebt? – Der nun berstend auf andere Steine kracht?; «die Welt krampfte um sein nervöses Herz»; «dass sie für ewig ein Loch ins hauchdünne Seidentuch der Seele stanzten» ... «Sie blickte also auf, ihren Kopf bewegte sie dabei keinen Millimeter, er war gesenkt auf die Unterlagen, aber ihre blutgeäderten Augen klappten mechanisch nach oben und durchbohrten ihren Bruder – sie war die Horrorpuppe, die plötzlich im Wandschrank zum Leben erwachte, sobald das Licht im Kinderzimmer aus war.» «Ein letztes Stückchen Grün auf der verbrannten Erde ihrer leistungsgetriebenen Seele.» «fischgesichtige Suffragette» «mit der Stimme wie ein überhitzter Vibrator» «war der Puls des Sommeliers ein Hamsterrad» «Der Sommelier blickte kurz auf die große Lücke im Gebiss der Aktenordner.» «Die Zeit fiel wie Putz von der Wand» Eben das und der lange Anlauf verderben ein wenig das Lesevergnügen, obwohl es grundsätzlich eine gute Story ist. Geduld ist gefragt – Spannung setzt erst in der Mitte ein. Stilistisch kann der Autor eine volle Schippe drauflegen. Metaphern sind Perlen der Sprache, wohldosiert selten einzusetzen – dann aber ausgefeilt. Und das wunderschöne Wort sagte, sagt immer noch mehr aus als ein Grunzen. Wer sich an diesen Dingen nicht stört, erhält insgesamt einen netten Genusskrimi – etwas für Feinschmecker und Weinverrückte. Für den allgemeinen Weintrinker war es ein wenig zu viel Etikettengeschwurbel, Markenkrimi. Mattis Ferber ist ein Pseudonym von Hannes Finkbeiner. Der Autor wuchs in einem Hotelbetrieb im Schwarzwald auf, machte eine Lehre zum Restaurantfachmann und studierte an der Hochschule Hannover Journalistik, wo er heute auch als Dozent lehrt. Finkbeiner schrieb u.a. für FAZ, Spiegel Online oder RND. Für die HAZ verfasst er eine wöchentliche Gastro-Kolumne.

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