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mabuerele

Posted on 20.7.2022

„…Warum bist du nicht hier, damit wir uns um dich kümmern können, bist nicht Kind, damit wir Eltern sein dürfen?...“ Es ist der 12. März 1938, als Österreich von Deutschland okkupiert wird. Der Befehl lautet, dass Wien innerhalb von vier Jahren judenfrei sein soll. Otto, 13 Jahre, gehört zu den sorgfältig ausgewählten 100 Kindern, den die schwedische Mission in Wien eine Ausreise nach Schweden ermöglicht. 500 Briefe waren der Ausgangspunkte dieses Buches, Briefe, die die Autorin von Ottos Tochter erhält. Das Buch ist als Sachbuch deklariert. Doch es liest sich spannend wie ein Roman, ein Roman, der unter die Haut geht. Die Autorin erzählt von Ottos Kindheit, seiner Herkunft, seinen Vorfahren. Deutlich trennt sie zwischen Wissen und Vermutung. Noch ein zweites Lebensbild wird beschrieben, das von Ingvar Kamprad, den Gründer von IKEA. Die Lebenswege von Otto und Ingvar werden sich kreuzen, sie werden zu Freunden. Als die Lebensverhältnisse in Wien für die jüdische Bevölkerung immer schwerer werden, schicken die Eltern Otto nach Schweden. Jetzt gibt es mehrere Erzählstränge. Das Leben in Wien und das in Schweden werden beschrieben. Und zwischen den beiden Orten gibt es nur eine Brücke, die Briefe. Es sind Briefe, die mehr verschweigen, als sie sagen. Von Seiten der Eltern erhalten sie Ermahnungen. Nur so können die Eltern versuchen, Einfluss auf die Entwicklung des Sohnes zu nehmen. Die Briefe erzählen oft zwischen den Zeilen von Sehnsucht und schwindender Hoffnung, von Angst und Dankbarkeit. Otto muss es lernen, „…zur selben Zeit zu trauern und zu genießen…“. Dazwischen stehen Abschnitte, in denen die Autorin in beeindruckender Weise die politische Lage analysiert: die Todesmaschinerie in Deutschland, die alltägliche Macht der Nazis in Schweden, das Schweigen der Welt. Der Sprachstil des Buches bringt den Inhalt erst richtig zur Wirkung. Die Sachlichkeit bringt die Unmenschlichkeit auf dem Punkt. Ein-Wort-Sätze wirken eindringlich. Licht und Schatten werden als trennende Elemente benutzt. Die geschickte Verwendung von Metaphern und eine Sprache mit neuen bildhaften Wörtern scheinen die Grausamkeit der Zeit zu betonen. Sie zeigen, dass Menschlichkeit und Barmherzigkeit auf der Strecke bleiben. Die Opfer werden zu Schuldigen. Man erwartet Dankbarkeit und übersieht, dass manche der geretteten Kinder psychisch zerbrechen. Sie haben keine Chance, Wurzeln zu schlagen. Es fällt schwer, dem Buch gerecht zu werden. Für manche Dinge gibt es keine Worte. Die Autorin ergänzt ihre Ausführungen durch einen Blick in die Geschichte, durch ein Interview mit Ingvar Kamprad und seiner Schwester und durch die Information, was aus Ottos Verwandten wurde. Vieles, was in dem Buch beschrieben wird, war mir neu. Dazu gehört insbesondere Rolle Schwedens in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Das Buch hat mich erschüttert und tief bewegt. Es ist ein Buch gegen das Vergessen. Das Cover mit dem Jungen im kalten Winter steht für die Kälte der Zeit. Der Titel des Buches ist ausgezeichnet gewählt. Die Bäume stehen noch, die Menschen wurden vertrieben und getötet. Betroffen macht, dass einige Gedanken des Buches auch heute zum politischen Alltag gehören. Das Buch sollte zur Pflichtlektüre in der Schule werden.

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