letterrausch
Nell Leyshons Roman „Der Wald“ hatte mir gar nicht gefallen. Es handelte sich um eine Mutter-Sohn-Geschichte während des Zweiten Weltkriegs und nichts an diesem Buch hatte mich überzeugt. Allerdings war der Prosa anzumerken, dass Leyshon schreiben kann: Ich wollte also herausfinden, ob ich mit einem anderen Roman von ihr mehr Glück hätte. Und so bin ich zu „Die Farbe von Milch“ gekommen. Wieder ist das Setting historisch; wir befinden uns irgendwo im englischen Hinterland im Jahr 1831. Protagonistin ist die junge Mary, die in einer Bauernfamilie aufwächst. Der Ton ist feindselig und rau, der Vater – ausschließlich darauf konzentriert, seine zehn Morgen Land zu bewirtschaften – beweint die Tatsache, dass er nur Töchter hat, mit Kaltherzigkeit und körperlicher Gewalt. Nur beim Großvater findet Mary ein freundliches Gesicht und Wärme. Trotzdem ist sie weder verbittert noch duckmäuserisch. Im Gegenteil: Sie hat ein loses Mundwerk und auf alles ein freche Erwiderung. Sie knickt unter den Knopfnüssen und Schlägen des Vaters und dem Wegschauen der Mutter nicht ein, sondern ist schlicht der Meinung: So ist das Leben nun mal. So bleibt das Leben allerdings nicht, denn eines Tages „verkauft“ der Vater seine Tochter an den örtlichen Pfarrer. Sie soll in dessen Haushalt der kränklichen Ehefrau zur Hand gehen und ihr Gesellschaft leisten. Hier erfährt sie nun zum ersten Mal (bescheidenen) Reichtum, Interesse an ihrer Person und Bildung. Sie lernt nämlich lesen und schreiben. Was sie in diesem Haushalt erlebt, beschreibt sie selbst und diesen Tatsachenbericht legt uns Nell Leyshon vor. Auf der Handlungsebene hat dieser Roman für mich deutlich besser funktioniert als „Der Wald“. Ja, die überraschenden Wendungen waren alles andere als überraschend und wohin sich die Handlung entwickeln würde, war auch ziemlich schnell klar. Trotzdem lässt sich das Buch gut lesen, vor allem wenn man an einer Geschichte interessiert ist, die illustriert, wie eine Frau (oder hier: ein junges Mädchen) zum Spielball von Männern und gesellschaftlichen Konventionen wird. Nirgends hat man den Eindruck, dass Mary einen anderen Abzweig hätte nehmen können, dass sie sich hätte retten können. Sie ist gefangen in ihrer Situation, die zu einem unweigerlichen Ende führt. Hier überzeugt der Roman durchaus, man muss aber auch sagen (in Anlehnung an Reich-Ranicki): Thomas Hardy hat das besser gemacht. Wenn man „Tess“ gelesen hat, gibt es nichts, das man aus „Die Farbe von Milch“ noch lernen könnte. Hardy hat das Thema so allumfassend abgegrast, dass auch eine durchaus begabte Autorin wie Leyshon dem schlicht nichts hinzufügen kann. Allerdings hat das Buch ein ähnliches Problem wie schon „Der Wald“, der historisch schwammig in einem zeitlichen und zusammenhanglosen Niemandsland zu spielen schien. Den Zweiten Weltkrieg spürte man im Roman kaum. Auch „Die Farbe von Milch“ ist zwar wieder ein historischer Roman, doch spielt dieser Aspekt – abgesehen vom Fingerzeig „schau mal, wie es damals war“ – absolut keine Rolle. Das lässt sich hier nur besser verstecken, da der Roman aus Marys Perspektive erzählt wird und sie natürlich weder historische noch politische noch gesellschaftliche Zusammenhänge versteht bzw. wahrnimmt. Ihre Welt ist eben sehr klein. Trotzdem vermittelt auch dieses Buch wieder das Gefühl eines luftleeren Raums und man fragt sich zwangsläufig, warum Leyshon immer wieder zum historischen Stoff tendiert, wenn sie das Historische so offenbar überhaupt nicht interessiert. Was leider gar nicht funktioniert hat, war die Erzählhaltung, die Perspektive. Wir lesen hier den Bericht von Mary, den sie „eigenhändig geschrieben“ hat, wie sie wiederholt versichert. Wie wir ja aus der Erzählung erfahren, ist sie des Lesens und Schreibens gerade so mächtig. Im Buch äußert sich das wohl durch (größtenteils) fehlende Interpunktion und durchgehende Kleinschreibung. Das stört sicherlich den Lesefluss, macht aber natürlich das Hörbuch attraktiv. Um allerdings die fehlende Bildung (und fehlendes Verständnis für Schriftsprache) von Mary zu verdeutlichen, greift der Text immer wieder zu „und dann... und dann... und dann...“-Konstruktionen, die einfach kein Ende nehmen wollen. Das nervt, auch wenn man versteht, was Leyshon verdeutlichen will. Denn abgesehen von diesen überdeutlichen Kniffen ist der Text natürlich trotzdem durchkomponiert und -konstruiert. Es werden Dialoge wortgetreu wiedergegeben. Die Landschaft und die Tageszeit und das Aussehen von Personen werden beschrieben. All das, obwohl das Schreiben Mary offenbar anstrengt, da sie es nicht gewohnt ist. Trotzdem finden sich all diese literarischen Elemente im Text, die dann die propagierte Erzählhaltung aber komplett untergraben und unterwandern. Technisch ist der Text für mich komplett misslungen, weil er so offenbar literarisch ist, obwohl er gleichzeitig immer wieder behauptet, eben nicht literarisch zu sein. Ein Gegensatz, der sich nicht versöhnlich auflösen lässt. Trotzdem: „Die Farbe von Milch“ war eine erfolgreichere Leseerfahrung als „Der Wald“. Immer noch habe ich den Eindruck, dass Leyshon immer wieder durchscheinen lässt, dass sie eine großartige Erzählerin ist. Doch aus irgendeinem Grund funktionieren ihre Erzählungen für mich einfach nicht. Wir werden in diesem Leseleben wohl keine Freundinnen mehr.