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mabuerele

Posted on 10.7.2022

„...Hinter dem Balkon des oberen Stockwerks und im Erdgeschoss luden je drei bodentiefe Sprossentüren zum Eintreten ein. Darüber waren halbrunde, ebenfalls mit weißen Sprossen unterteilte Fenster angebracht, deren dunkelgrüne Holzläden den gebogenen Schwung aufnahmen...“ Diese Sätze vermitteln nur einen kleinen Eindruck des Hauses, vor dem Marly gerade steht. Gleichzeitig zeigen sie, wie gekonnt die Autorin mit Worten spielen kann und wie detailliert ihr Beschreibungen sind.. Was hat es nun mit dem Haus an der malerischen Küste der Normandie auf sich? Marly ist eine von drei Erbinnen. Warum und wieso ist ihr ein völliges Rätsel, genau wie den beiden anderen auch. Keiner kann sich erinnern, die Verstorbene je gekannt zu haben. Die Autorin hat einen bewegenden Roman geschrieben. Die Geschichte hat mich sofort in ihren Bann gezogen. Der Schriftstil ist ausgereift. Das zeigt sich schon an der guten Charakterisierung der Protagonisten. Marly stammt aus Deutschland und ist Lehrerin. Joscelin ist eine französische Geschäftsfrau und Lucienne hat in Kanada in einfachen Verhältnissen gelebt. Allerdings ist sie eine begnadete Köchin. Schnell wird klar: Die Erblasserin hat nichts dem Zufall überlassen. Verkaufen sie das Haus, ist das Geld zu spenden, behalten sie es, gibt es genaue Vorgaben, was zu tun ist. Ab und an klingt leise an, dass die Einwohner das Geschehen mit Argusaugen beobachten. Sie haben gute Gründe dafür, denn sie kannten die Erblasserin und ihre Geschichte – im Gegensatz zu mir als Leserin. Am Anfang wirft das Geschehen eine Menge an Fragen auf. Daraus ergibt sich die hohe innere Spannung der Geschichte. Und dann sind es die Gespräche zwischen den drei so unterschiedlichen Frauen, die dem Geschehen eine besondere Tiefe und ein ganz eigenes Flair geben. „...Joscelin neigte den Kopf zur Seite und musterte Marly lange Zeit nachdenklich. „Was erwartest du von den Menschen, die dich lieben, Marly?“ Die Frage war herausfordernd. Wusste sie das überhaupt?...“ Außerdem gibt es Sätze, die einfach dazu anregen, über sie nachzudenken und weiter zu denken. Sylvie, die junge Gärtnerin, spricht über Blumen. Wirklich nur? „...Gemeinsam sind sie schön. Und dabei ist es egal, welches Alter die Blumen haben, ob sie auf einer sonnigen Lichtung oder im Schatten der Bäume gewachsen sind. […] Sie sind alle wichtig und werden gebraucht, denn im Miteinander sind sie perfekt...“ Natürlich geht es nicht immer ernst und tiefgründig zu. Das Zusammenleben unterschiedlicher Charaktere bedingt logischerweise auch Konflikte, vor allem dann, wenn Schwierigkeiten auftreten. Da kommt es schon einmal hart auf hart. Marly ist diejenige, die es meist schafft, die Wogen zu glätten. Ein feiner Humor findet sich an passenden Stellen. „...“Gesteh mir doch bitte zu, lernfähig zu sein. Ja, man kann die eine oder andere Arbeit auch noch am darauffolgenden Tag erledigen.“ „Daran erinnere ich dich bei Gelegenheit.“...“ Es macht Freude zu lesen, wie sich die Charaktere weiter entwickeln. Sie waren schon am Anfang nicht stromlinienförmig, sondern jede hatte ihre Stärken und Schwächen. Letztere wurden mehr oder weniger sanft abgeschliffen, erstere verstärkt. Dazu kamen überraschende Begabungen. Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Es beleuchtet auf gekonnte Weise unterschiedliche Facetten der Liebe: zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Menschen, die ein gemeinsames Werk in Angriff genommen haben. Ein Zitat, dass fast am Ende der Geschichte steht, soll meine Rezension abschließen. „...Sie verstand plötzlich das Wesen der Liebe. […] Liebe wurde verschenkt und durfte als Geschenk angenommen werden. Sie war der Klebstoff zwischen den Menschen...“

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