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letterrausch

Posted on 10.7.2022

Rose Macaulay (1881-1958) war eine sehr fleißige englische Schriftstellerin: Mehr als zwanzig Romane stammen aus ihrer Feder, dazu kommen noch Lyrik und Sachtexte wie z.B. Biographien und Reiseberichte. Auf deutsch ist im Moment nur ihr Roman „Ein unerhörtes Alter“ aus dem Jahr 1920 erhältlich. Im September ’22 wird allerdings „Was nicht alles“ folgen, eine dystopische Geschichte, die vermutlich sowohl Aldous Huxley als auch George Orwell beeinflusst hat, die im Gegensatz zu „Schöne neue Welt“ und „1984“ jedoch praktisch sofort vom Buchmarkt verschwand, vergessen wurde und die in Großbritannien erst 2019 wieder ausgegraben und neu veröffentlicht worden ist. Doch das ist eine andere Geschichte. Hier soll es nun um „Ein unerhörtes Alter“ gehen, das Macaulay schrieb, als sie ungefähr vierzig war – ganz wie die Figur, mit der der Roman startet. Wir lernen Neville am Morgen ihres Geburtstags kennen. Ihre Kinder sind erwachsen, starten gerade selbst im Leben durch. Neville selbst ist schlank, drahtig und extrem sportlich. Am Morgen ihres Geburtstags sinnt sie über ihr Leben und das Älterwerden nach. Vermutlich, so denkt man beim Lesen, werden wir Neville dabei beobachten, wie sie versucht, eine neue Rolle im Leben zu finden, nachdem sie die Mutterrolle erfolgreich gespielt hat. Und ja, wir bleiben auch bei Neville, doch zusätzlich führt Macaulay weitere Frauen ein. Es geht um Nevilles Kinder, um Nevilles Mutter, um Nevilles Großmutter. Jede Generation Frau (20, 40, 60, 80 – ganz grob) hat andere Leidenschaften, andere Interessen, steht an anderen Punkten im Leben. Nevilles Tochter Gerda verliebt sich, will aber partout nicht heiraten. Nevilles Mutter Mrs. Hilary war nie etwas anderes als Mutter und Ehefrau. Ihre Kinder haben längst ein eigenes Leben und ihr Mann ist tot. Die interessenlose Mrs. Hilary entdeckt schließlich die Psychoanalyse für sich. Dort muss sich ein bezahlter Psychiater all ihre trivialen Erzählungen (vermeintlich interessiert) anhören, für die ihre Familie längst keine Nerven mehr hat. Und dann ist da noch Großmama, die mit ihren 80 Jahren scheinbar an allen Widrigkeiten des Lebens keinen Anteil mehr hat und schon fast wie vom Jenseits aus das Leben der anderen wie ein Theaterstück betrachtet, das sie nichts angeht. An diesen Figuren verhandelt Macaulay viel und sie verhandelt es mit spitzer Feder. Alles, was sie schreibt, gibt Stoff für Diskussionen und war 1920 sicherlich hoch aktuell (was nicht bedeuten soll, dass sich die Themen des Romans heute „erledigt“ hätten). Doch die potenziell ernsten Themen wie Religion, Feminismus, arbeitende Frauen, Fortschritt, Psychotherapie werden immer auch humoristisch gebrochen. Damit ist „Ein unerhörtes Alter“ zwar ein Roman mit schweren Themen, aber er liest sich sommerlich leicht. Man wird gut unterhalten von Macaulays englischem Humor und ihrer unglaublich vielschichtigen Figurenzeichnung. Keine der Frauen ist eine Schablone oder ein Klischee – und das, obwohl natürlich jede auch als Muster für ihre Generation gelesen werden soll und darf. Denn das „unerhörte Alter“ bezieht sich, das wird schnell klar, nicht nur auf Neville allein. Jedes Alter ist unerhört (deshalb auch der Originaltitel „Dangerous Ages“) und bringt seine eigenen Zwänge, Ängste und Aufgaben mit sich. Sich darin zurechtzufinden, seinen Platz zu verteidigen und nicht daran zu verzweifeln – die Geschichte dieser Suche erzählt Rose Macaulay. Dabei geht es „very british“ zu. Ja, es gibt auch einen Urlaub in Cornwall, der eine recht tragische Wendung nimmt. Doch hauptsächlich sitzt man in Landhäusern herum, spaziert durch Seebäder, spielt Tennis oder trinkt Tee. Die rasanten Veränderungen in der Gesellschaft, gerade auch im Hinblick darauf, was Frauen dürfen und was nicht, haben so natürlich auch in anderen (westlichen) Ländern stattgefunden. Und doch fühlt sich der Roman grundlegend englisch an in seinem kühlen Charme und dem ironischen Unterton. „Ein unerhörtes Alter“ verdient unbedingt eine Leseempfehlung. Besonders ist der Roman allerdings geeignet für alle, die folgendes mögen: starke Frauenfiguren, Familiengeschichten, Generationenromane und das alles gewürzt mit einer Prise Humor.

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