Wordworld
Als ich von der deutschen Übersetzung des amerikanischen Bestsellers "Cinderella is Dead" gehört habe, war ich sofort Feuer und Flamme. Ich meine, ein dystopisches, queeres Retelling des Cinderella-Märchens? Wer wäre da nicht sofort an Bord. Leider muss ich nach dem Lesen feststellen, dass die Umsetzung nicht an die grandiose Grundidee heranreichen konnte und "Cinderella ist tot" mich unterm Strich enttäuscht hat. Doch beginnen wir zunächst beim Cover. Der Heyne Verlag hat sich zum Glück dafür entschieden, sowohl beim Titel als auch beim Covermotiv sehr nah am Original zu bleiben und beschert uns somit ein sowohl inhaltlich passendes als auch sehr schön anzusehendes Cover. Zu sehen ist ein Mädchen of Color, das in einem ramponierten blauen Ballkleid und mit gläsernen Schmetterlingen im Haar herausfordernd den LeserInnen entgegenblickt. Von dem blauen Hintergrund heben sich zudem der Autorinnenname und der Titel in goldenen Buchstaben ab. Für Cover und Titel gibt´s von mir also schonmal einen Daumen nach oben. Etwas kritischer sehe ich die sehr große Schrift innerhalb der Buchdeckel, welche dafür sorgt, dass die 378 Seiten der gebundenen Ausgabe sich lesen wie 200. Dank der kurzen Kapitel und des einfachen, flüssigen Schreibstils der Autorin war ich demnach in kürzester Zeit durch mit dem Buch. Schade fand ich, dass nicht nur einer, sondern gleich zwei inhaltliche Fehler im Klapptext auf der Rückseite des Buches abgedruckt sind (sie steht nicht vor ihrem dritten, sondern vor ihrem ersten Ball und sie widersetzt sich für ihre Freundin Liv, nicht für Erin) und ich beim Lesen deshalb ein wenig verwirrt war. Von diesen Schnitzern abgesehen, ist auch das Innere des Buches ansprechend gestaltet und mit Einladungen, Ausschnitten aus Briefen und Dekreten aufgelockert. Eine Karte des Settings gibt es nicht, das ist jedoch nicht weiter tragisch, da sehr schnell klar wird, dass dies überhaupt nicht benötigt wird. Erster Satz: "Cinderella ist seit zweihundert Jahren tot." Denn neben immer wieder auftauchenden Motiven des Cinderella-Märchens und der wiederholenden Gewalt gegen Frauen ist leider kein Worldbuilding vorhanden. Kalynn Bayron nimmt hier mit in eine dystopische Fantasywelt, in der 200 Jahre nach Cinderellas Tod Frauen und Mädchen systematisch unterdrückt werden. Mit der Geschichte von Cinderella, die Glück und Wohlstand verspricht, wenn man sich nur an die Regeln der Gesellschaft hält und auf dem jährlichen Ball einen Ehemann sucht, werden Generation um Generation der Stadt Lille und des umliegenden Königreichs ruhig gehalten. Die Autorin zeichnet hier also ein Bild vom Leben von Frauen, das von häuslicher Gewalt, Willkür, Sexismus, öffentlichen Hinrichtungen und der Unmöglichkeit, die eigene Sexualität auszuleben geprägt ist. In welchem Königreich liegt Lille, ob es die Hauptstadt ist, wie es den Leuten dort geht, welche Klimazone herrscht, was um das Königreich liegt und was der König so treibt, wenn er nicht gerade Einladungen zu Bällen signiert, wird jedoch leider mit keinem Wort erwähnt. Die Geschichte verlässt sich auf sehr wenige Schauorte wie Sophias Zuhause, der Palast, der Weiße Wald, Cinderellas Grab und Cinderellas Haus, hinterlässt um diese Spotlights herum jedoch nur weiße Flecken auf meiner inneren Landkarte. Eine zusätzliche Schwierigkeit, bei der Vorstellung des Settings ist die Tatsache, dass die Figuren zwischen den Schauorten in Windeseile wechseln und deshalb kaum ein Verständnis für Dimensionen, Entfernungen und die Größe der Stadt aufkommt. Ich habe also selten eine Fantasy-Geschichte mit solch spärlichem Worldbuilding gelesen. "Vielleicht will Liv, dass jemand sie wegholt. Ich kann es ihr nicht verübeln, aber mein Wunsch ist das nicht. Ich will nicht von einem Ritter in strahlender Rüstung gerettet werden. Ich möchte die Rüstung tragen, und ich würde gerne diejenige sein, die rettet." Da die Qualität einer Geschichte ja aber nicht nur vom Setting abhängt, hätte ich "Cinderella ist tot" ihr schlampiges Worldbuilding gerne verzeihen können, wenn mich denn die Handlung mitreißen hätte können. Leider war ich nach wenigen Kapiteln schnell ernüchtert und musste feststellen, dass die Handlung es sich sehr einfach macht und oft den Weg des geringsten Widerstands geht. Die einzige überlebende Nachfahrin Cinderellas nach einer halsbrecherischen Flucht aus dem Palast an einem verschollenen Grab treffen? Joa, warum nicht. In einen angeblich verfluchten Wald ziehen, um eine möglicherweise dort lebende Fee zu finden und ohne große Zwischenfälle direkt über ihre Hütte stolpern? Ist doch total realistisch und naheliegend. Hier geht einfach vieles viel zu leicht, entwickelt sich zu plötzlich oder ist zu unglaubwürdig, um der grundsätzlich spannenden Handlung wirklich mit Herz folgen zu können. Auch die allermeisten Wendungen waren mir viel zu offensichtlich und gerade die Rolle des Königs und die Wahrheiten hinter dem Cinderella-Mythos habe ich schon sehr früh vorhersehen können. "Glück ist ein Bonus, Sophia. Du hast kein Recht darauf, und je früher du das akzeptierst, umso einfacher wird dein Leben." "Und wenn ich kein einfaches Leben will?" Meine Mutter sieht mich an. Sie öffnet die Lippen, um etwas zu sagen, presst sie wieder zusammen und senkt den Blick auf die Tischplatte. "Sei vorsichtig, was du dir wünschst. Denn möglicherweise bekommst du es auch." Am meisten enttäuscht haben mich hier jedoch nicht das Worldbuilding oder die Handlung, sondern die Figuren, da sie allesamt flach und eindimensional blieben. Vor allem die Hauptfigur Sophia hätte als queere, rebellische PoC das Potenzial gehabt, eine laute und starke Botschaft in die Welt zu senden. Leider beschränken sich ihre Charakterzüge aus "rebellisch" und "wütend" und außer ihren Problemen, sich an Regeln zu halten und ihren schnell auflebenden Gefühlen für Constance passiert nicht besonders viel in ihrem Innenleben. Sie denkt nicht über die Folgen ihrer Handlungen (zum Beispiel für ihre Familie) nach, schert alle Männer über einen Kamm und fühlt sich in der Rolle der rebellischen Heldin viel zu wohl, um mir wirklich sympathisch zu sein - da hilft dann der geteilte Vorname leider auch nicht mehr. Von anderen Figuren wie der kämpferischen und wunderschönen Constance (die leider ebenfalls nicht mehr ist als kämpferisch und wunderschön), Sophias Freundin und erste Liebe Erin (die man ebenfalls mit wenigen Adjektiven umfassend charakterisieren könnte) oder dem jungen Luke (die einzige männliche Figur, die hier nicht schlecht wegkommt) will ich gar nicht erst anfangen. Die einzige wirklich interessante Figur, welche mehrere Facetten hat und keinem ausgetretenen Klischee entspricht ist die "gute Fee" Amina, welche jedoch auch deutlich blasser bleibt, als hier möglich wäre. "Sie ist in Sicherheit. Aber das hier ist Lille. Niemand ist hier je in Sicherheit" Die Autorin präsentiert uns hier also ein sehr klares, überschaubares Bild von Gut und Böse mit nur wenigen Überraschungen. Von moderner Fantasy, die gezielt mit Klischees brechen und eine Botschaft für mehr Diversität und Feminismus senden möchte, erwarte ich mir da deutlich mehr. Gegen die Kritik an der Unterdrückung von Frauen und dem Wunsch nach mehr Gleichberechtigung und Freiheit für alle (LGBTQIA+-)Menschen kann man natürlich überhaupt nichts einwenden. Die auf den ersten Moment feministische Botschaft wird aber dadurch getrübt, dass hier deutliche Anklänge von "Frauen sind besser als Männer" und "Männer sind grundsätzlich böse" vorkommen, was natürlich nicht dem Grundgedanken des Feminismus entspricht, dass alle Geschlechter gleichgestellt sind. Das bedeutet nicht, dass ich die Geschichte schlecht fand (sie hatte wie gesagt auch ihre spannenden Momente und tollen Ansätze), sie blieb nur einfach so weit hinter meinen Erwartungen zurück, dass ich einfach enttäuscht sein musste. Anstatt hier eine interessante, vielschichtige und gesellschaftskritische Geschichte zu erzählen, lässt sich "Cinderella ist tot" unterm Strich also folgendermaßen zusammenfassen: Männer sind böse, Sophia ist sooo rebellisch, der König ist ein Monster und die Cinderella-Geschichte eine Lüge. Schade! "Du bist nicht verloren?" Ich denke einen Moment nach. "Vielleicht bin ich das. Aber der Unterschied ist, dass ich wiedergefunden werden möchte. Ich werde keine fröhliche Miene aufsetzen und so tun, als wäre alles in Ordnung, obwohl ich weiß, dass es das nicht ist." "Und von wem würdest du gerne wiedergefunden werden?", fragt Amina. "Von mir selbst", sage ich. "Ich werde mich selbst finden." Fazit: In Kalynn Bayrons dystopischem Cinderella-Retelling steht eine grundsätzlich gute Botschaft einem spärlichem Worldbuilding, einer eindimensionalen Handlung und klischeehaften Figuren gegenüber. Die Umsetzung von "Cinderella ist tot" kann also leider lange nicht an die grandiose Grundidee heranreichen! 2,5/5 Sterne