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wandanoir

Posted on 29.6.2022

JA KUNST - EINDEUTIG KUNST. Kurzmeinung: Muss man nicht lesen, aber wenn man es liest, sollte man die Sprachkunst des Autors würdigen. Manchmal stelle ich mir die Frage, für wen ein Autor schreibt. Für sich selber, wie ich es, z.B. bei „Matou“ von Michael Köhlmeier in erster Linie vermute, für die Galerie, wie ich es bei den hochkünstlich und/oder hochkünstlerischen Schreibern annehme, also für Ruhm und Ehre seitens des Feuilletons, wie ich es mir auch bei Saša Stanišić vorstellen könnte und auch bei anderen Autoren, deren Titel regelmäßig auf der Longlist des Deutschen Buchpreises auftauchen. Oder schreiben sie etwa gar für diejenigen, die Spaß am Lesen haben, für diejenigen, die man „Vielleser“ nennt und die regelmäßig Bücher im Buchhandel kaufen, also, strenggenommen, für den Kunden? Ich fürchte, für die zuletzt Genannten schreiben sie am wenigsten. Der Roman „Vor dem Fest“, ist so ein Zwischending: für alle ein bisschen und für die Galerie am meisten. In poetischen Bildern beschreibt der Autor das Leben in einer Dorfgemeinde im Landkreis Uckermark, also im Brandenburgischen gelegen. „Der Morgennebel raubt den Farben den Atem“. Man ist in der Nachwendezeit, die Jugend ist bis auf wenige Ausnahmen abgewandert, man richtete sich ein. Eine exzentrische, hoch betagte Malerin hat über die Jahre hinweg den Alltag in Fürstenfelde in Landschaftsansichten und Porträts festgehalten, andere Originale machen aus ihrer Garage eine anspruchslose Kneipe, die jedoch die Grundbedürfnisse der Einheimischen befriedigt: Saufen und dummes Zeug von sich geben, Frust ablassen und nicht alleine sein. Eine dicke alte Frau hegt im Heimatmuseum die Dorfchronik samt ihrer Geheimnisse ein, ein ehemaliger NVA Offizier kommt gerade so über die Runden und denkt an Suizid. Die im Heimatmuseum in einem alten Folianten verborgenen Geheimnisse deckt der Autor der Leserschaft allerdings nach und nach auf. Seit der ersten beurkundeten Benennung des Dorfes sind schröckliche und seltsame Dinge geschehen, mehrere unaufgeklärte Morde, Verbrennungen, Intrigen und falsche Verdächtigungen, die Junker strecken noch immer die Hand nach dem Land aus, allen voran Poppo von Blankenburg. Bis jetzt ohne Erfolg. Es gab Geschehnisse einstens, berichtet und festgehalten in der Dorfchronik, wo man die in der Mär und Legende verborgene Prise Wahrheit mit der Lupe suchen muss, aber etwas wird schon dran sein: da liest man vom Fährmann, dem Teufel und der Pest oder vom Bierbrauer, der schlecht braute und dem die Frau weglief, auf einem Besenstiel geritten gar abhanden kam, nee, aber es war Hexerei im Spiel, etc. etc. Einen großen Brand hat es auch gegeben. Und wer war schuld? Man klärt solche Dinge besser nicht auf noch spürt man Motive auf, deren man sich schämen müsste. Aber alles steht in der Chronik, bewacht von der dicken Frau in einer kleinen Kammer, die Tür mit einem Zahlengeheimschloss gesichert. Der Kommentar: So viel historisches Geschehnis und gleichzeitig die Verflechtung heutiger Beziehungen in einen einzigen recht schmalen Band unterzubringen, ist wahrlich eine Kunst. Alles, was die Sprachkunst hergibt, bemüht der Autor lustvoll und ausgiebig für seine Erzählung. Er schreibt assoziativ, zitiert (erfindet) Einträge aus der Dorfchronik und setzt sie als Authentizitätsbeweis in historisches (also schlecht lesbares) Deutsch. Immer wieder stößt man auf wunderbare Wortspiele. Märchenhafte, nicht immer ganz durchschaubare Zusammenhänge, Aphorismen, Lakonisches und humorvolle Einflechtungen wechseln sich ab. Nach einem Unfall heißt es: „Im Schnitt liegen im TATORT im Laufe eines Jahres mehr tote Autofahrer mit dem Kopf auf dem Lenkrad als in sechs ausgewählten amerikanischen Fernsehkrimireihen im gleichen Zeitraum.“ Zum Schreien. Am Ende weiß man einigermaßen Bescheid über Land und Leute, über Gegenwart, Zukunft und ganz viel Vergangenheit. So etwas muss man Saša Stanišić erst einmal nachmachen. Der Autor beherrscht die Verdichtung des Stoffes wie kaum ein anderer. Andererseits geht seine Lust am Sprachspiel und am Fabulieren manchmal auch auf Kosten der Verständlichkeit. Nicht alles wird ausgelotet. Aber klar ist geworden: „Hier ist alles immer gleich oder ändert sich sehr langsam.“ Und das ist das Wesentliche. Oder? Fazit: Das moderne Schreiben ist anders. Ich habe den Roman „Vor dem Fest“ größtenteils gerne gelesen. Der Lust an der Sprache ist Tribut zu zollen, selbst wenn man ein Fan der alten Erzählweise ist und bleibt. Der Leipziger Buchpreis 2014 geht in Ordnung. Kategorie: Anspruchsvoller Roman. Moderne Erzählung. Leipziger Buchpreis, 2014 Verlag: Luchterhand, 2014

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