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Das ist ein ordentlicher Brocken Lese- oder Hörarbeit (560 S. bzw. 15 Std.). Die Autorin, deren Eltern afrikanischer bzw. deutscher Herkunft sind, legt einen „großen Wurf“ zum Thema „diskriminierungsfreie Gesellschaft“ vor. Dabei greift sie auf biografische und berufliche (journalistische) Erfahrungen zurück und entwickelt auf dieser Basis eine Zukunftsvision des solidarischen Zusammenlebens, in dem Unterschiedlichkeiten (Differenzen, Diversität) nicht nur anerkannt und akzeptiert , sondern als bereichernde Elemente einer gemeinsamen humanen Welt begrüßt werden. HARUNA-OELKER wendet sich in ihrem Buch so ziemlich allen Gruppen zu, die als übersehene, marginalisierte, diskriminierte, ausgesonderte, abgewertete, unterdrückte oder verfolgte Minderheiten mehr oder weniger im Fokus stehen. Speziell aufmerksam macht die Autorin auf den Aspekt der „Intersektionalität“, also die Tatsache, dass die diskriminierten Merkmale oft nicht isoliert bzw. unabhängig voneinander bestehen, sondern in ihrer Kombination besonders einschneidend wirken. Sie ergänzt subjektive Sichtweisen immer wieder durch die Befunde der sozialwissenschaftlichen Community, die sich rund um die Themen „Rassismus“, „Antisemitismus“, „Marginalisierung“, „Gender“, „Trans“ und „Feminismus“ gebildet hat. (Ein wenig „unwissenschaftlich“ erscheint mir die fehlende Definition von „Normalität“ in diesem Text: Es wird an keiner Stelle zwischen „statistischer“ Normalität und einer „normgebenden“, wertenden Normalität unterschieden.) Die Haltung der Autorin ist eine Art „grenzenlose Zugewandtheit und Solidarität“. An sich selbst hat sie den Anspruch, dass ihr Verhalten (insbesondere ihre Sprache) möglichst von keiner betroffenen Personen an irgendeinem Punkt als verletzend, ignorant, ausgrenzend, uninformiert usw. erlebt werden könnte. Da ihr bewusst ist, dass sie zwar einige – aber eben nicht alle – Diskriminierungsbereiche aus eigener Erfahrung kennt, hat sie ihren Text von anderen, spezifisch-sensibilisierten Personen überprüfen lassen. Das führt dann zu einem Sprachgebrauch, der sich vermutlich als Benchmark für das maximal Möglich eignen würde (so wird z.B. jedem „Mann“ oder „Frau“ noch beigefügt: „oder der/die als solche/r gelesen wird“). Auch Wortprägungen wie „FreundInnenschaft“ kommen vor (möglicherweise, weil der Begriff „Freundschaft“ noch nicht divers genug klingt). Die Autorin will zweifellos – trotz eindeutigster Parteinahme für alle Minderheiten – mit ihrem Buch keine Gräben aufreißen. Sie gehört nicht zu den AktivistInnen, die durch bewusste Provokationen für die eigenen Ziele kämpfen und dabei in kauf nehmen, dass nur die eigene Blase erreicht (und mobilisiert) wird. HARUNA-OELKER appelliert an alle gutmeinenden Menschen (den rechten Rand lässt sie beiseite). Vor allem auch an diejenigen, die zwar nicht selbst unmittelbar betroffen sind, aber ihre gesellschaftlichen Privilegien (als Mitglied der weißen, binär-heterosexuellen, normschönen, gebildeten, sozial abgesicherten, nicht-behinderten Mehrheit) für das Ziel eines humanen Zusammenlebens einsetzen wollen. Wenn der Begriff nicht als Kampfbegriff (von der anderen Seite) kontaminiert worden wäre, könnte man dieses Buch auch als ein Manifest des „Gutmenschentums“ bezeichnen: Wer wollte sich ernsthaft den hier beschriebenen Zielen entgegenstellen? Wer wollte den benachteiligten Gruppen ihre Gleichstellung und ihr Mitwirken an dem gesellschaftlichen Ganzen vorenthalten? Wer sollte nicht Diskriminierung, Hass, Gewalt und Ausbeutung möglichst weitgehend aus unserem Zusammenleben verbannen wollen? Für viele (in irgendeiner Weise betroffene) Leser/innen wird dieses Buch ein willkommenes, bestimmt auch beglückendes Geschenk sein: So viel engagierte Empathie, so ein grenzenloses Interesse für die jeweils spezifischen Erfahrungen, so viel Beistand und Solidarität, so viele Hinweise auf Persönlichkeiten und Publikationen aus der jeweiligen Community. Man kann sicher sein: Dieser Text verbindet, entlastet, ermutigt, stärkt, motiviert. Was wollte man mehr?! Was ist mit denen, die sich aus der geschützten Distanz der „priviligierten Mehrheitsgesellschaft“ diesem Buch widmen möchten – vielleicht um ihre Sensibilität zu vergrößern, vielleicht auch nur, um die Dynamik des „Antidiskriminierungs-Diskurses“ endlich mal zu verstehen? Man sollte sich darauf einstellen, dass die Maßstäbe wirklich sehr hoch gesetzt werden. Spätestens nach den ersten 200 Seiten wird man sich überfordert fühlen von dem Anspruch, sich jeweils in die Erfahrungswelt der betrachteten Gruppe in dieser Intensität einzudenken. Vielleicht muss man sich dann klarmachen, dass Antidiskriminierung auf dieser Stufe ein Vollzeitjob ist, den man im normalen Alltag weder leisten kann noch muss. An einigen Stellen kam mir die (sicher etwas naive) Idee, ob nicht eine grundlegende, in Familie und Schule eingeübte Haltung von „Respekt und Anstand“ schon einen großen Teil der angestrebten Ziele erreichen könnte: Wenn jede/r lernen würde, „einfach“ jedem Menschen ohne Abwertung, Ausstoßung oder Ausbeutung gegenüberzutreten – müsste man vielleicht nicht jedes einzelne Merkmal so genau betrachten… Schwierig fand ich an einigen Stellen die Gewichtungen bei der Beurteilung unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit: Bilden beispielsweise die verabscheuungswürdigen rassistischen Hassverbrechen, Übergriffe und Pannen der Sicherheitskräfte und die mangelnde Partizipation Behinderter denn tatsächlich die typische Realität unseres Gemeinwesens ab? Zwischendurch entsteht ein Bild, in dem die zivilisatorische Entwicklung der letzten 75 Jahre ein wenig aus dem Blick gerät. Was ist – so fragt man sich – mit der Erfahrung der Flüchtlinge, die nach ihrer Odyssee durch Nordafrika und Südost-Europa in Glückstränen ausbrechen, wenn sie das erste Mal mit „unserer“ Polizei in Berührung kommen? Gibt es in der Menschheitsgeschichte wirklich so viele Beispiele für Kulturen, in denen mit Andersartigkeit, Fremdheit, Abweichungen, Behinderungen humaner umgegangen wurde als in unserer Gegenwart? Liegt ein völlig „bewertungsfreier“ Umgang mit „Anderssein“ wirklich in den evolutionären Kapazitäten der Gattung Mensch? Es geht nicht um Rechtfertigung von Missständen oder um den Verzicht auf weitere Fortschritte; es geht um das Gesamtbild. Ich glaube nicht, dass man den Mainstream damit erreicht, dass man ihm das Gefühl gibt, in einem mehr oder weniger unmenschlichen System zu leben. Positiv ist, dass die Autorin in ihrer Bilanzierung am Ende hier deutlich versöhnlichere Worte findet. Das Buch stellt ein sehr umfassendes, sowohl kognitive als auch emotionale Seiten ansprechendes Plädoyer für eine Akzeptanz von Diversität dar. Es macht bewusst, dass uns (und unsere Weltsicht) unterschiedliche Erfahrungen geprägt haben, die wir uns alle nicht aussuchen konnten. Die Verschiedenheiten als ein Schatz zu betrachten, der für eine „reichere“ und solidarischere Gesellschaft genutzt werden kann und sollte, ist ein sehr erstrebenswertes Ziel