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Der Anfang: «Juli war nicht tot. Zumindest noch nicht. Es regnete, und sie ärgerte sich. Regen war das Einzige, was sie nicht eingeplant hatte. Ihre Softshelljacke hielt, entgegen wilden Versprechungen des Herstellers, dem Wetter nicht stand. Sie zitterte vor Kälte. Wenn es wenigstens ein peitschender Regen wäre, einer, der jene große Entscheidung, die sie für den heutigen Tag getroffen hatte, durch seine Unbarmherzigkeit und Wildheit nur unterstrich. Aber statt Pathos: Nieselregen. Kein undurchdringbarer, wütender Sturm, stattdessen: ein Sprühregen wie der, der im Lebensmittelladen Zucchini und Paprika frisch hielt.» Die 69-jährige Hella Licht ist nachts auf der Autobahn in NRW unterwegs, als sie sieht, dass kurz vor ihr sich eine junge Frau von einer Grünbrücke auf den Rand der Fahrbahn stürzt. Eine Brücke, errichtet für «Rehe und Wildschweine», damit sie «nicht der A33 zum Opfer fielen», nicht unter den «Rädern des Feierabendverkehrs verenden». Die 15-jährige Juli hat den Sturz glücklicherweise überlebt, lediglich ein paar Blessuren abbekommen. Juli, die sich ins Schneckenhaus verzieht. Ein Schneckenhaus in der Tasche. Denn ihre ständig abwesende Mutter ist Schneckenforscherin, ständig weltweit unterwegs, Juli kennt sie nicht. Die Geschichte hatte ihr der Vater aufgetischt – inklusive Geburtstagspost in jedem Jahr aus irgendeiner Ecke dieser Welt, bunte Postkarten – bis sie registrierte, dass der Poststempel aus dem eigenen Ort stammte. Juli hatte dieses Märchen ziemlich lange geglaubt, fühlt sich doppelt betrogen. Ein Mädchen, das von Depression geplagt ist, das unsichtbar sein möchte, sich in der Pause in der Schultoilette einschließt, um das Pausenbrot zu essen. Weder Therapien noch die intensive Hilfe des Vaters können ihr Halt geben. Hella, Angst davor, der unterlassenen Hilfeleistung bezichtigt zu werden, lädt das Mädchen in ihr Auto und verspricht ihr, sie in Ulm bei der Mutter abzusetzen. Eine Mutter, die es nicht gibt. Eine Fahrt in den Süden, denkt Juli, bloß weg von hier. Hella ist unterwegs in die Schweiz – was sie nicht erzählt, sie hat einen Termin bei der Dignitas zur Selbsttötung. Sie, ein einst bekanntes Schlagersternchen, heute unbedeutend, muss sie sich freuen, wenn sie einen Auftritt zu einer kleinen Feier im Einzelhandel erhält. Selbst für ihren röchelnden, uralten Passat ist es ein Selbstmordtrip, diese Strecke zu überstehen. «Hella war durchaus bewusst, dass eine Leitplanke definitiv keine sichere ‹Du kommst aus dem Gefängnis frei›-Karte war. Und im Gegensatz zu Leitplanken versprach die Schweiz einen deutlich glamouröseren Abgang. ... Das Beste, dachte sie so leise wie möglich, denn der Gedanke war ihr vor ihr selbst peinlich, das Beste war, dass sie in der Schweiz zwei Termine hatte: einen zum Sterben und einen einige Stunden davor: zum Schminken und Frisieren.» Auf dem Roadtrip vom Norden in den Süden nähern sich die beiden Frauen an und entfernen sich gleichzeitig in Wellen. Letztendlich sind sie sich nahe, wenn sie sich gerade weit voneinander entfernen. Hella, laut und recht empathielos, kann nicht begreifen, wie so ein junges Ding sich das Leben nehmen will. Sie selbst jagt den alten Zeiten nach: Erfolg, Publikum, Schönheit, Bewunderung. Aber das Jetzt und die Zukunft ist von Bedeutungslosigkeit geprägt, die sie in Alkohol ertränkt. Letztendlich hat sie es selbst verbockt, weil sie steckengeblieben ist auf der Erfolgswelle, die Abzweigung zu einem anderen Weg verpasste, den sie ihn nicht sehen wollte. Von Selbsthass getrieben, beginnend mit dem Blick in den Spiegel, will sie ihrem Leben ein Ende machen. Nur auf sich fixiert kann sie sich nicht in Juli hineinversetzen – eigentlich ist ihr das Mädchen lästig – eine stumme Beifahrerin, sie sie nicht unterhält. Und wenn die beiden miteinander sprechen, reden sie aneinander vorbei, machen sich gegenseitig Vorwürfe. Juli wirft Hella Oberflächlichkeit vor. Was sie beide verbindet (nur der Lesende erfährt davon), ist eine Mutter, die sie nicht lieben wollte, die ihre Liebe ignorierte. «Es war schließlich nicht ihre Schuld, dass Teenager gerade vom Himmel fielen, wenn sie selbst auf dem Weg dorthin war.» Auf dem Weg in den Süden werden die beiden Frauen mehr oder weniger unfreiwillig in skurrile Erlebnisse verwickelt. Eine gesperrte Straße zwingt sie anzuhalten, auf einem Feuerwehrfest zu verweilen. Hella wird erkannt, auf die Bühne gezogen und singt, was Zeug hält: «Ende in Sicht», ihr größter Erfolg. Das Bierzeltpublikum ist für den Moment begeistert. Hella säuft, was Zeug hält, stürzt betrunken von der Bühne, und keinen interessiert es. Juli sammelt sie auf, die parallel eine interessante Erfahrung hinter sich hat. «Im Licht des Scheinwerfers existierte Hella nur im Moment. Und der war gut. Vor ihr johlten sturzbetrunkene Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr ihren Liedtext mit und prosteten ihr zu. Hella sang.» Zwei weitere Erlebnisse folgen – bei denen Hella wieder beweist, dass sie nur an sich selbst interessiert ist. Jede Depression ist eine eigene Persönlichkeit, nicht mit der einer anderen vergleichbar. Nicht wie Masern oder Grippe erklärbar, schon gar nicht mit typischen Verläufen. Es gibt ein paar Gemeinsamkeiten: Das «Sch...egal-Denken», die Unlust am Leben, der Depressive ist in sich gefangen, in seiner inneren Leere, es ist ihm egal, was er anrichtet, wenn er sich vor den Zug schmeißt, was er in den Seelen von Angehörigen verursacht. Hier spricht die Autorin an, nicht darüber zu richten, was wir als Gesunde nicht verstehen können. Wie kann ein junger Mensch sein Leben beenden wollen? Weil er getrieben wird. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Ronja von Rönne selbst leidet seit langem unter Depressionen und steht unter Dauermedikamentation. Autobiografisch? Nein, keinesfalls. Aber die eigenen Erfahrungen schwingen mit – so die Autorin: «Vor allem ist dieses Buch nicht wegen, sondern trotz dieser Sch...krankheit entstanden ...» Der Roman ist kurzweilig, lebt von Slapstick. Skurrile Szenen am Fließband. Leider zeichnen sich die Figuren nur schablonenhaft, wabern an ihrer Oberfläche. Wo ist die Figur, die theoretisch «keinen Grund hätte», depressiv zu sein? Glückliche Kindheit, gute Ausbildung, eine glückliche Familie und einen guten Job: trotzdem depressiv. Davon gibt es jede Menge. Und gerade hier setzt ja das Unverständnis bei vielen Menschen ein: Warum begeht so ein Mensch Suizid? Diese beiden Figuren sind mir ein wenig nach Hausfrauenpsychologie gestrickt – Tiefe besitzen sie keinesfalls. Warum eigentlich fühlen sich gleich beide Protagonistinnen sich auf Grund einer nicht vorhandenen Mutterliebe verloren? Doch letztendlich geht es hier um eine witzige Geschichte. Das Thema Depression wird nur gestreift. Wer dazu etwas lesen möchte, der sollte sich ein anderes Buch, einen anderen Roman nehmen. Mir fehlte hier das innere Ausleuchten der Figuren. Gut geschriebener Slapstick, ein Drama, ein Unterhaltungsroman, ein Roadmovie das allerdings keineswegs wie ein Hollywoodfilm endet. Der auktorial Erzählende steckt mir zu oft im Erklärungsmodus. Szenen, die alles offen legen, müssen nicht zusätzlich erläutert werden. Wenig Tiefgang in diesem Roman; für mich immerhin ein versöhnliches Ende – denn «Ende in Sicht», hier bleibt die Autorin in der Realität. Nette Unterhaltung, mehr war es für mich nicht. Ronja von Rönne, geboren 1992, ist Schriftstellerin, Journalistin und Moderatorin. 2015 las sie beim Ingeborg-Bachmann-Preis. Seit 2017 moderiert sie auf ›Arte‹ die Sendung ›Streetphilosophy‹ und schreibt für die ›DIE ZEIT‹ und ›ZEIT ONLINE‹.