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Der Anfang: «Wir sind die Nacht. Wir bringen Düsternis und Trunkenheit, Katzenkämpfe, Schlaf und Schlaflosigkeit, Sex und Sterbefälle. Wer in aller Ruhe sterben möchte, ohne zu viel Trara und Drama, macht das vornehmlich in uns, der Nacht, während die angehenden Hinterbliebenen schlafen.» Als der Notarzt in einem Reihenhaus eintrifft, herrscht eine ruhige, fast unheimliche Atmosphäre. Eine Bewohnerin, Elisabeth, ist im Beisein ihrer Mitbewohner verstorben - sie ist verhungert. Eine Wohngemeinschaft von drei Frauen, einem Mann, und die Geschichte einer leisen Radikalisierung: Melodie, Muriel, Petrus und Elisabeth haben, jeder auf eigene Art, den Halt im Leben verloren; sektenartig haben sie sich dem Licht verschworen. Als Nahrung reicht das Licht – wer es sehen und fühlen kann, so glauben sie, kann sich vom Licht ernähren. Stilistisch besonders sind die vielfältigen Perspektiven, bei der auch Dinge zu Wort kommen, die mit «Wir sind ...» beginnen. «Wir sind die Nacht ...», die erste Perspektive, auch die Eltern, die Polizei oder der Tatort selbst kommen zu Wort: «Wir sind der Tatort. Vor nicht allzu langer Zeit waren wir ein gewöhnliches Haus, wir unterschieden uns kaum von den anderen Häusern im Viertel, ...» Literarisch und inhaltlich ein Leckerbissen. «Wir sind die Fakten. Strafbar oder nicht, die beste Möglichkeit, sich uns zu nähern, bieten die Lügen. Alle Unwahrheiten eliminieren, bis wir als nackte Tatsache übrig bleiben.» Die Polizei ermittelt. Warum haben die Bewohner der WG namens «Klang und Liebe» den Notarzt nicht früher gerufen? Ist dies nun unterlassene Hilfeleistung? Darf sich jemand auf diese Weise das Leben nehmen; bzw. haben andere, die tatenlos zusehen, eine Mitschuld? Und wie kamen diese Menschen überhaupt auf die Idee, sich vom Licht ernähren zu wollen? Es gibt Websites, die erklären, dass dies möglich ist – aber sie sind tricky gestaltet, findet die Polizistin heraus, denn niemand behauptet hier definitiv, dass er die Ernährung über das Licht dauerhaft praktiziere ... Unterschiedlicher Lebensformen und Geisteshaltungen in unserer Welt, in der alles möglich ist. Melodie, die über die Lichternährung täglich aus der WG bloggt, ist die Mieterin, die Schwester der Toten. Die vier leben von Elisabeths Sozialhilfe, die nicht immer reicht. Die polizeiliche Ermittlerin geht sie hart als Hauptverdächtige an, will eine Anklage erwirken, ein Ermittler versucht es mit Verständnis. An der ausgeglichenen Melodie prallt das alles ab – sie lebt in ihrer Welt. Spirituelle Befreiung, oder Spinner, wie andere meinen? «Manchmal machten sie einfach den Eindruck, als kämen sie von einem anderen Planeten. Auch, wie sie aussahen.» Die Beschreibung des verdunkelten Hauses, das die Bewohner kaum verlassen, ist kaum möbliert, sie schlafen auf dem Boden, ist atmosphärisch beklemmend beschrieben. Der Kühlschrank ist leer, aber es gibt eine Menge Obst und einen Entsafter. Hier leben esoterisch-querdenkerische Typen. Die Autorin berichtet im Nachwort, sie sei zu der Geschichte durch einen Fall in von 2017 in Utrecht inspiriert worden, bei der eine Frau in einer Wohngemeinschaft verhungerte. Melodie ist die treibende Kraft. Vom Vater wurde sie als Wunderkind am Cello betrachtet, doch in ihrem Musikstudium ist sie später gescheitert. Gescheitert am Ehrgeiz, an der eigenen Fehleinschätzung zieht sie sich zurück, holt die anderen drei in ihre Wohnung, um Musik und Meditation zu betreiben, bis die Gruppe sich unter Melodies Führung radikalisiert. Die vier besuchen Online-Seminare zu Atem- und Licht-Meditationen – nur schaut man sich die Betreiber an, so scheinen sie wohlgenährt zu sein, denn die Seminare sind nicht billig. Mitbewohner Petrus scheitert an seiner Wut – durch aggressive Ausraster verliert er ständig seinen Job. Muriel musste bereits als Kind jeden Tag auf die Waage steigen, der Trigger, werde ja nicht zu dick und ernähre dich gesund, haben ihr die Eltern verpasst. Elisabeth stand immer im Schatten ihrer Schwester. «Wir sind die Geschichte. Langsam und vorhersehbar steuern wir auf unser Ende zu - den Höhepunkt oder die Enttäuschung, das bleibt abzuwarten. Wir vermuten, dass es eine Enttäuschung sein wird, wenn der Autor so weitermacht.» Ein Kunstgriff der Autorin besteht darin, die Perspektive von Dingen einzunehmen, die der Geschichte philosophische Gedanken geben oder etwas erklären: der Zweifel, der tote Körper, kognitive Dissonanz, zwei Zigaretten, der Duft von Orangen, die Demenz, der Zweifel, das Cello, die zwei Wollsocken von Melodie, das verführerische Brot, das sie in der Untersuchungshaft serviert bekommt – sogar die Geschichte selbst. Verschiedene Menschen kommen zu Wort: der Arzt, die Ermittler, der Rechtsbeistand, der Vater, ein Bruder. Stilistisch endlich mal etwas anderes, sensationell. Handwerklich fein ausgearbeitet, ist der Roman ein Vergnügen. Inhaltlich ein aktuelles Thema, das hier von allen Seiten beleuchtet wird: Wie kommt einer drauf, sektenähnlichen Verführungen zu folgen? Dürfen wir das verurteilen, uns einmischen? Dürfen wir die, die den freiwilligen Tod respektieren und zuschauen, rechtskräftig verurteilen? Ein Roman, den man unbedingt lesen sollte! «Wir sind Licht Wir sind Liebe Wir sind Klänge überall Wir sind Zellen voller Leben Wir sind nichts Wir sind das All» Gerda Blees, geboren 1985, lebt in Haarlem, sie studierte Fine Arts an der Gerrit Rietveld Academie in Amsterdam und unterrichtete an verschiedenen Universitäten. Ihr Romandebüt «Wir sind das Licht» wurde u.a. mit dem Nederlandse Boekhandelprijs und dem Europäischen Literaturpreis ausgezeichnet.