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gwyn

Posted on 19.6.2022

Anfang: «Früher war er durch Fenster in die Freiheit gesprungen, nun war er unterwegs in sein Grab. Diesmal würde er für immer verschwinden, wie der erste Schnee, der gerade fiel und sich spurlos in den schwarzen Äckern Kents verlor. In einer Neumondnacht von Donnerstag auf Freitag im Oktober 1730 stand ein siebzigjähriger Reisender, den Mantelkragen bis über beide Ohren hochgeschlagen, auf dem seitlichen Trittbrett einer Kutsche, klammerte sich ans Dachgestänge und balancierte die Rumpeleien mit seinen noch immer erstaunlich gelenkigen Beinen aus.» Daniel de Foe beginnt als Unternehmer, später Journalist, Kirchengegner, Geheimagent wider Willen und Intimfeind Queen Annes im London um 1700, das zu dieser Zeit aus zwei Städten besteht, dem oben und unten, in denen Gewalt herrscht. Einbrecher und Auftragsmörder regieren die Stadt, am Hof werben Mächtige um Gunst der Königin. Queen Anne, man bezeichnet sie als weniger klug, eine Frau, die sich nicht für Staatsgeschäfte interessierte, die lieber Karten spielte, anderen das politische Spielfeld überließ. Unter ihrer Herrschaft wurden die Schotten zu Ausländern erklärt, der Handel mit Schottland eingeschränkt. Andersdenkende werden zu Staatsfeinden erklärt, an den brutalen Pranger gestellt, den sie oft nicht überleben, oder in Newgate Prison eingesperrt, den gefürchtetsten Kerker Europas. «In Romeville, wie die Verbrecherwelt Londons ihr Revier einst nannte, befindet sich ein unterirdisches Tunnelsystem. Lange Zeit ist sein Zweck völlig unbekannt geblieben. Auf ihm ruht noch immer die große, uralte Stadt.» Daniel Foe wurde um 1962 als Sohn eines wohlhabenden Londoner Talghändlers geboren. Er überlebte die Pest, den großen Brand von London und den Überfall im Medway durch niederländische Schiffe. Nach dem Tod des Vaters betrieb er einen kolonialen Import-Export-Handel mit mäßigem Erfolg und als er mehrere Schiffe verlor, musste er Konkurs anmelden. Von nun an arbeitete er als Essayist, wobei er sich kritisch mit politischen und wirtschaftlichen Fragen beschäftigte. Er gehört der presbyterianischen Kirche an – war somit ein religiös Ausgegrenzter. Es kamen Satireschriften hinzu. Er setzte sich stets für Toleranz gegenüber nationalen und religiösen Minderheiten ein. Die Essays kamen später erfolgreich vertrieben als Gesamtwerk als illegale Raubkopie unter das Volk. Und als man herausfand, wer der Verfasser ist, steckte man Daniel de Foe (das de hatte er selbst zugefügt) wegen der Verbreitung von aufrührerischen Schmähschriften in den Kerker, stellte in danach an den Pranger. Erneut ruiniert, widmete er sich weiter dem Journalismus und schrieb Romane, z. B. «Robinson Crusoe». Unter ständig wechselndem Namen gab er eine Zeitschrift heraus, die gegen die Regierung wetterte. Er wurde zum Staatsfeind – aber nicht fassbar. Gasser erzählt die Geschichte de Foes auf verschiedenen Zeitebenen, nicht chronologisch. Ich hatte einen spannenden historischen Roman erwartet – der Anfang ging ja auch packend an – aber letztendlich habe ich mich eher durch das Buch hindurchgekämpft. Spannung kommt nicht auf und man muss sich sehr in die Stilistik einlesen, um an der Stange zu bleiben. Zäh und verkopft, mit einer sehr distanzierten Erzählhaltung, verschachtelten Sätzen, hin und her springend, war dieser historische Roman für mich kein Lesevergnügen. Die Geschichte nicht fließend eine erzählt, sondern Abschnitte aus de Foes Leben herauspickt und sie aneinanderreiht. Ich bin nur drangeblieben, weil Daniel de Foe eine bemerkenswerte Persönlichkeit war und das Leben dieser Epoche rein wissenschaftlich gesehen gut dargestellt wird – eben eher informativ als spannend. Das Ganze als Krimi oder Abenteuerroman zu bezeichnen, erachte ich als weit hergeholt. Manipulation durch Faknews, Populismus, staatliche Zensur, die Verfolgung von Andersdenkenden und religiösen Gruppen – vergleichbar mit der heutigen Welt in manchen Teilen. Daniel de Foe im Untergrund dagegenhaltend, der Vorreiter des investigativen Journalismus. Eine schwieriger Zeitabschnitt Englands. Sicher ein interessanter Roman, aber wer hier Krimi und Abenteuer erwartet, den muss ich enttäuschen. Markus Gasser, geboren 1967 in Österreich, ist Romancier, Essayist, Universitätsdozent, Kritiker und Schöpfer des beliebten YouTube-Kanals «Literatur Ist Alles». Zuletzt erschienen u.a. «Die Launen der Liebe», «Das Buch der Bücher für die Insel» und «Eine Weltgeschichte in 33 Romanen». Der Autor lebt mit seiner Frau und einer labyrinthischen Bibliothek in Zürich.

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