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gwyn

Posted on 19.6.2022

Der Anfang: «Als der Sturm unerwartet losbrach, wurde Thomas Myers auf die Knie geworfen. In der Ferne verdunkelte sich die Luft. Er hörte ein Heulen, und alles um ihn wurde weiß. Die Heftigkeit des Sturms hatte er nicht erwartet. Er verbarg den Kopf in den Armen und legte sich flach aufs Eis, um nicht weggerissen zu werden. Seine Hand bewegte sich unwillkürlich zu seinem Handy, obwohl er wusste, dass er keinen Empfang hatte und kein Handy. Es war ein Gefühl, als würden ihm die Kleider vom Körper gerissen und die Luft aus der Lunge gesaugt.» Ein Roman, der, wenn man es genau nimmt, zwei Geschichten enthält. Das erste Drittel, eine Abenteuergeschichte: Drei Männer befinden sich in der Antarktis, auf Alexander Island, allein im Außencamp Station K, um neue Vermessungen durchzuführen. Zwei stehen im Feld, nur ein paar Meter voneinander getrennt, der Dritte nicht weit entfernt über ihnen, als sie ein plötzlich einsetzender Schneesturm überrascht. Es haut sie um, die Sicht auf zehn Zentimeter. Die Orientierung im Nichts, wo ist links, wo vorn? Das Funkgerät; nur erst mal drankommen. Werden sie das Unwetter überleben? Wer wird richtig handeln? Drei Perspektiven. «Er hätte das Funkgerät nicht aus der Hand legen sollen. Er hätte sich nicht von Luke entfernen sollen. Er hätte nicht Ja sagen sollen zu Docs Idee, auf den Priestley Head zu steigen, nur für ein Foto.» Nach den ersten Seiten hole ich das erste Mal Luft. Jon MacGregor hat mich sofort abgeholt. Kopfkino, Nature Writing vom Feinsten – Die Kraft der Natur, mittendrin drei hilflose Menschen. Authentisch mit viel Sachverstand beschreibt der Autor das Leben auf einer arktischen Station, die Ausnahmesituation. Wer nun meint, einen Abenteuerroman vor sich zu haben, der kennt Jon MacGregor nicht. Bereits in «Reservoir 13» befasste er sich mit dem Thema nach der Katastrophe: Wie gehen die Betroffenen damit um? Die Hauptfigur Robert, genannt Doc, leitet diesen kleinen Trupp. Ein erfahrener Mann, der mehr in der Antarktis lebt als zu Hause bei Frau und Kindern. Anna hat ihn genau deshalb geheiratet – ist in der Lage, ein völlig selbstbestimmtes Leben zu führen. Die UNI-Dozentin ist überrascht, als ein Anruf eingeht: Robert hat in der Antarktis einen Schlaganfall erlitten und es geht im sehr schlecht. Sofort fliegt sie nach Chile zu Robert. Der wird es überleben – nur wie? Und ergeht es diesem Paar, dass mehr oder weniger die gesamte Ehe getrenntlebend verbracht hat? «Sie musste ihm etwas zu essen geben, bevor sein Blutzucker zu niedrig wurde. Sie musste ihn im Sessel sitzen lassen, während sie in die Küche ging, ... Sie musste auf jedes Krachen oder Geräusch achten, während sie einen Apfel schnitt, Toast aufstrich und Tee kochte. Sie musste das Telefon ignorieren, während sie das Frühstückstablett die Treppe hinaufbrachte.» Robert, der die Arktis liebt, ein selbstständiger Typ – nun gefangen in einem Körper, der ihm arg zu schaffen macht. Anna, eine vollbeschäftigte Akademikerin, deren Leben plötzlich auf den Kopf gestellt wird. Sie hatte diesen Mann genommen, weil sie genaugenommen nie vorhatte, eine Ehefrau zu werden – und sie hat auch nicht vor, eine Pflegerin zu werden. Ich will nicht mehr verraten, denn natürlich fließt der Vorfall weiter in den zweiten Teil ein. «Viele Jahre. Junger Mann, alter Mann. Viele Schichten. Diese. Diese Geschichte. Ein Tag. Arbeit. Sturm kommt.» Stürzen – Liegen – wir haben einen dritten Teil – Stehen: Hier geht es um Schlaganfallopfer, um Rehabilitation und um solche, die an einer Aphasie leider – einer Wortfindungsstörung. Robert will seine Geschichte erzählen – nur wie? Sprachlos sein, hilflos sein; völlig aus dem alten Leben gekippt. Sprache ist mächtig – genau darum geht es Jon McGregor – Sprache, Sprachbilder. Ein großartiges Buch, denn Jon MacGregor beherrscht die punktgenaue Sprache wie kaum ein anderer. Wer noch kein Buch von ihm gelesen hat, der sollte spätestens mit diesem anfangen. Eine spannende Geschichte und Literatur vom Feinsten! Jon McGregor wurde 1976 auf den Bermudainseln geboren und wuchs in der Grafschaft Norfolk auf. Er hat bislang zwei Erzählungsbände und fünf Romane veröffentlicht, für die er mehrfach ausgezeichnet worden ist, u.a. mit dem Somerset Maugham Award, dem Betty Trask Award und dem International Dublin Literary Award. Sein Roman »Speicher 13« war 2017 für den Booker Prize nominiert. Jon McGregor lebt in Nottingham.

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