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gwyn

Posted on 19.6.2022

Der Anfang: «Als mein Großvater zwölf Jahre alt war, erhängte sich mein Urgroßvater am Deckenbalken seiner Backstube mit einer Hundeleine. Die Füße schwebten über dem Arbeitstisch. Er schaute starr von oben hinunter auf sein Kind.» Triggerwarnung: Dies ist ein sehr düsterer Roman, der die Essstörung einer 13-Jährigen beschreibt, die zunächst in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie künstlich ernährt wird, sich später stabilisiert. Sie weigert sich, zu essen, zu sprechen – in der Klinik Familienmitglieder zu empfangen. Der Großvater steht übermächtig über der Familie, auch die Großmutter und deren Vater. Die Urgroßväter, Despoten und üble Schläger – so wie sie die Großeltern schildern. Geschwister, die sich heute spinnefeind ist, eine Familie voller Brüche. Die Großeltern hatte mit ihren kleinen Töchtern Tschechien verlassen, waren nach Deutschland ausgewandert, wo sie von vorn anfangen mussten. Der Großvater, der Bücher schreibt, die niemand verlegen will, aus denen er ständig der Familie vorliest, auf die Kommunistenschweine schimpft. Überhaupt sitzen die Großeltern mit patriarchaler Härte wie ein großer Dämon über der Familie, die sich davon nicht befreien kann. Die Eltern und die Mutter sprechen viel Tschechisch miteinander – die Protagonistin spricht die Sprache nicht, denn man wollte sich eigentlich von allem Tschechischen befreien. Einerseits ja – andererseits nein, denn jeden Sonntag bereitet die Großmutter Gulasch mit Klößen zu, vorweg eine Suppe, ganz traditionell. Danach hat der Großvater (der übrigens von der Protagonistin der Vater genannt wird) seinen langen Auftritt mit Lesungen aus den Manuskripten. Die Sprache werden sie nicht los, wenn sie aus dem Herzen sprechen wollen. Der Vater der Protagonistin ist einfach abgehauen, hat diese Familie hinter sich gelassen. Die Mutter scheint ihre Eltern schlicht zu ignorieren – es ist so, wie es ist. Die Mädchen reagieren mit Essstörung: Die eine frisst Unmengen in sich hinein, die andere verweigert Nahrung und Sprache. «Ich sitze in seinem Zimmer. Nach wie vor komme ich zu ihm. Nach wie vor schlage ich meine nackten Beine übereinander und spiele mit den feinen Härchen auf meinen Schenkeln. Ich trage kurze enge Shorts. Meine Beine sehen mittlerweile wieder aus wie Beine und nicht wie mit Haut überzogene Knochen. Sie sind schlank und leicht gebräunt von der Sonne im Garten.» Die Protagonistin wechselt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, bringt uns die Familie näher. Sie beginnt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie durch Einträge in ihr kariertes Buch sich mit sich selbst und ihrer Familie auseinanderzusetzen. Die Gegenwart ist im Präsens geschrieben – was mir wieder Zahnschmerzen verursachte. Solange ein Ich sich im Präsens mit seinem Inneren, seinen Gedanken befasst, kann ich folgen. Wenn das Ich aber dem Leser erklärt, wohin es geht, was es für Kleidung trägt, wie sie aussieht usw., dann komme ich nicht mehr mit. Ein Ich weiß das, macht sich darüber keine Gedanken und erzählt sich genau das nicht selbst. Das ist alles Geschmackssache – mir rollen sich beim Lesen einer solchen Perspektive die Fußnägel hoch. Diese Frauenfiguren haben Männer geheiratet, die sie zufällig gewählt haben, nicht aus Liebe. Und darum brauchen sie einen Fetisch. Bei der Großmutter ist es die Heilige Jungfrau Maria und bei der Mutter ist sie es selbst, die Pflege ihres Aussehens. Eine schöne Frau, die sich absichtlich Kleidung und Schminke aussucht, die aus dem Rahmen fällt: auffällig, altmodisch, im ausgeprägt östlichen Modestil, bis hin zum Pelzmantel mit halben Tieren am Kragen. Denn sie hängt an ihrer Herkunft, an der Sprache – an allem, was von den Eltern verboten ist. Die Protagonistin und ihre Schwester fühlen sich ausgeschlossen, wenn die anderen in der Sprache sprechen, die sie lieben und hassen – weil sie zum alten Leben dazugehörte, zur Identität. Und genau das wirft die Protagonistin ihnen vor, man habe: «mich nie in die die Seele meiner Familie hineingelassen». Horrorgeschichten aus alten Zeiten, über die grausamen Urgroßeltern, immer wieder und über das schlechte Land ihrer Herkunft. Verbitterte Großeltern, die nicht mit den Kindern zufrieden sind, weil sie den «falschen» beruflichen Weg gingen, nicht in die Erwartung passen, obendrauf die falschen Partner suchten. Die Schwester kommt komischerweise nicht vor, lediglich werden die Fressattacken beschrieben. Die Protagonistin beschreibt die Wut im Bauch der Frauen ihrer Familie, die sie nie herausgelassen haben – die Wut der Männer ertrugen. Auch sie hat Wut. «Ehe ich aufhörte zu essen, habe ich aufgehört, mit meiner Mutter zu sprechen. Über ein Jahr habe ich nicht mit ihr gesprochen. Auch sonst spreche ich nicht gern.» Kinder, sie sich entfremden, die in einer grausamen Atmosphäre aufwachsen. Ein düsteres Buch durch und durch bis zur letzten Seite! Und ich hatte beim Lesen das innere Gefühl, es wird von Seite zu Seite schlimmer, denn die Reise geht bergab. Der klitzekleine Hoffnungsschimmer, dass dieses Mädchen einen Weg aus der Finsternis findet, hat mich persönlich nicht hoffen lassen. Praxiserfahren denke ich in diesem Fall: Die Hoffnung stirbt zuletzt; also wupp es! Wie gesagt, Präteritum und die Perspektive Ich hat für mich seine Grenzen, wie hier. Eine Coming-of-Age-Geschichte der brutalen Art und Weise. «Ich traue der Sprache nicht. Ich werde sie finden, meine Geschichte. Auch wenn ich uns verraten muss.», sagt die Protagonistin am Ende, die Hoffnung sich selbst zu finden und ihren Weg zu gehen. Ich konnte den Roman nicht am Stück lesen – zu schwer lag die Geschichte im Magen; dazu noch das Präsens: Hier spricht eine 13-Jährige mit der Stimme und Tonalität, den Gedanken einer reifen Frau, mit den Worten einer ausgereiften Autorin. Und genau das passt nicht! Insgesamt zieht mich dieses Buch extrem runter – einschließlich meines Daumens. Es ist garantiert kein Jugendroman, auch wenn die Geschichte von einer 13-Jährigen erzählt wird und er bei hansablau erschienen ist. Lea Draeger studierte Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in Leipzig. Sie arbeitet als Schauspielerin, Autorin und bildende Künstlerin. Seit 2015 spielt sie im Ensemble des Berliner Maxim Gorki Theaters, davor unter anderem am Schauspielhaus Bochum und der Schaubühne Berlin. Ihre bildnerischen Arbeiten wurden im 4. Berliner Herbstsalon, der Sammlung Friedrichshof und im Van Abbemuseum Eindhoven ausgestellt.

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