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Der erste Satz: «Als der Maler kommt, um ein Altarbild für die Kirche zu fertigen, weiß Martin, dass er am Ende des Winters mit ihm fortgehen wird. Er wird mit ihm gehen und sich nicht mehr umdrehen.» Ein modernes Märchen, ein etwas schräger Roman. Das Buch macht Spaß, wenn man sich auf seine Tonalität einlässt. Zu einer Zeit, lang ist’s her, lebt der elfjährige Martin in einem Dorf, von den Bewohnern fast ausgestoßen. Das Waisenkind besitzt nichts bis auf das Hemd auf dem Leib und seinen schwarzen Hahn, Behüter und Freund zugleich. Er ist der einzige, der einen Überfall auf ein Gehöft überlebte. Warum hat man ihn verschont? Martin ist zufrieden mit dem Geringsten, lebt von dem, was er als Arbeitslohn erhält; fürs Ziegenhüten eine Zwiebel. Unschuldig, zart, klug und stets liebenswürdig; er redet nicht viel, strahlt Ruhe aus. So einer macht den Leuten Angst. Schwarze Reiter preschen durch das Land, entführen Kleinstkinder. Das Land liegt im ewigen Krieg, die Pest grassiert. So wie es immer war. Eines Tages taucht ein Maler auf, der Aufträge annimmt, Martins Klugheit erkennt und ihn mit sich nimmt. «Und dann natürlich der Hahn. Den hat der Junge immer dabei. Auf der Schulter hocken. Oder im Schoß sitzen. Verborgen unter dem Hemd. Wenn das Vieh schläft, sieht es aus wie ein alter Mann, und alle im Dorf sagen, es sei der Teufel.» Der Junge, der es mit der Fürstin aufnimmt ... mehr sei nicht verraten. Dystopisch in der Tonalität der alten Märchen mit einem Hauch Poesie und Gruselfaktor führt uns Stefanie vor Schulte durch diese Dystopie, in der Gut und Böse klar getrennt sind. Gottesfürchtigkeit und Aberglaube, Armut, Angst, Krankheit, eine brutale Obrigkeit, bestimmen das Leben, das einerseits zeitlos, andererseits in Mittelalterszenarien angelegt ist. Der Maler soll für die Kirche ein Christus-Altarbild malen – und wer, wenn nicht Martin, eignet sich besser als Modell für den Erlöser. Der Hahn gilt im Dorf als Inkarnation des Teufels. Martin zieht mit dem Maler mit, will das entführte kleine Mädchen suchen, will wissen, was es mit den schwarzen Reitern auf sich hat – er steht für die Gerechtigkeit. Die Menschen im Dorf haben Angst vor ihnen. Man kann nichts ändern: Heute erwischt es unser Dorf, nächstes Mal die anderen. «‹Na, du …› Der Pfarrer kratzt sich am Kopf und reißt sich ein paar Haare aus. ‹Da zum Beispiel›, sagt er und hält die Haare hoch. »Davon haben wir zeitlebens den ganzen Kopf voll und dauernd kommt was nach. Oder hier.› Er schabt mit den Fingernägeln über den Unterarm, bis es Hautschuppen rieselt. ‹Haut›, sagt er verschwörerisch. ‹Dauernd verlieren wir Haut. Und pissen müssen wir. Und bluten. Und nie ist damit Schluss, bis wir tot sind. Beim Allmächtigen. Aber vorher folgt Er uns auf unserer Spur und findet jeden Sünder, ganz gleich, wie gut er sich auch verstecken mag.›» Lässt man sich auf die Geschichte ein, rutscht man in eine andere Welt, eine düstere Zeit, voller Tod und Gewalt. Im Zentrum aber strahlt der Junge mit schwarzem Hahn, der in seiner Naivität keine Angst kennt, klug alles hinterfragt. Der allwissende Erzähler führt durch die Geschichte, blickt zurück, um zu erklären. Die Autorin schafft eine dichte Atmosphäre, lässt feine Metaphern und archetypische Symbolik einfließen. Erfrischend anders, ein literarischer Leckerbissen. «‹Eines Tages›, flüstert der Hahn. ‹Eines Tages wirst du hier gewesen sein. Eines Tages wirst du wissen, wie alles ausgegangen sein wird. Eines Tages magst du Albträume haben, denn alles wird entsetzlich gewesen sein. Aber du wirst auch erzählen können, wie einfach es gewesen sein wird. Und dass nur du es konntest.›» Stefanie vor Schulte, 1974 in Hannover geboren, ist studierte Bühnen- und Kostümbildnerin. Sie lebt mit ihrem Mann und vier Kindern in Marburg. Ihr erster Roman ›Junge mit schwarzem Hahn‹ wurde 2021 mit dem Mara-Cassens-Preis für das beste deutschsprachige Debüt ausgezeichnet.