Profilbild von anne_hahn

anne_hahn

Posted on 17.6.2022

Mühsam nährt sich das Eichhörnchen. Zwischen dem 16. und dem 19. Januar 2018 schreibt Terezia Mora zwei Einträge, sodass auf einer Seite diese zwei Abschnitte zu stehen kommen, im ersten heißt es am Ende des zweiseitigen 16.-Januar-Eintrages: "Alles, was ich in letzter Zeit gelesen habe, war schwächer als das, was ich zurzeit schreibe. Das ist deswegen gut, weil ich dann also mein eigenes nicht aufgeben. Es ist nicht nur blinder als das Zeug der anderen, es ist sogar einäugiger – obwohl es nach meinem Empfinden höchstens mittelmäßig ist, und das ist wiederum schlecht… Es sind die Guten, die dich voranbringen. Ich kann gut damit leben, von Texten eingeschüchtert zu sein. Vom Talent der anderen. Ist gut, sage ich mir, dann stinke ich eben ab, aber die Literatur tut es nicht, und das ist, was zählt." 267 Seiten umfassen die Arbeitsbuch-Aufzeichnungen der Autorin, geschrieben zwischen ihrem 43. und 50. Geburtstag. Es sind Briefe dabei, Fotos, kurze Notizen, längere Gedanken, halbe Essays. Eigenwillig, brutal, ehrlich. Der Schreibprozess spielt die dominierende Rolle. Es ist ein Einblick in eine Schreibwerkstatt, aber auch eine Herkunft und Familie, einen dem Schreiben untergeordneten Alltag. Wenn die familiären Momente auch knappgehalten sind wie die verwaschenen Fotos, ergeben sie Streiflichter, verschriftlichte Polaroids eines Autorinnenlebens. Ergänzen die Prosawerke Terézia Moras auf eine beunruhigende, widersprüchliche Art und Weise der Entblößung, die den Leser zwischen Abgrenzung bis Bewunderung (siehe Zitat oben) und Heiterkeit bis Mitleiden (folgendes Zitat) schwanken lassen. Kalt lassen wird dieses Buch niemanden. Ein Kleinod für Terézia-Mora-Fans, ein Prüfstein und Ab-Arbeitsbuch für Schreibende. "19. Januar 2018 Die Vergesslichkeit der Eichhörnchen Durch Sarah Silberman gelernt: Die Eichhörnchen vergessen über 80 % der Nüsse, die sie verstecken. So werden Bäume gepflanzt. Das Verhältnis bei der Prosa ist ähnlich. 80 % von dem, was du versuchst, wird nichts. Zu jedem 500-Seiten-Roman, den ich veröffentlichte, gehörten 2 000 Seiten, die es nicht geschafft haben. Das sollte mich trösten – jetzt, da ich eingesperrt in die Lichtlosigkeit mir jeden Tag höchstens einen Absatz abquäle. Und den häufig nicht einmal zusammenhängend: einzelne, verstreute Sätze, die zusammen vielleicht einen Absatz ergäben. Mühsam nährt sich das Eichhörnchen. So ist es."

zurück nach oben