Profilbild von Babscha

Babscha

Posted on 13.6.2022

Juli Ehre heißt die Hauptprotagonistin dieses Romans, dessen harmlos-bieder gestalteter Einband so gar nicht auf die Sprengkraft der Story vorbereitet, die einen dann im Innern erwartet. Und auch die klug gewählte Doppeldeutigkeit des Buchtitels wird einem erst nach Leseeinstieg klar, dann allerdings umso deutlicher. Juli ist die jüngste von vier Geschwistern und wächst in einem Vorort Stuttgarts in einer gut situierten Akademikerfamilie auf. Beide Elternteile sind Anwälte, angesehen und gut vernetzt, die Kinder brav und folgsam, nach außen eine Vorzeigefamilie. Aber hinter den häuslichen Mauern toben Wahnsinn und Chaos, und das liegt, wie so oft im wahren Leben, auch hier an den Eltern. Der Vater ist ein durch und durch abstoßender Sadist und Psychopath, der Frau und Kinder terrorisiert und insbesondere die beiden Söhne und seine Frau grundlos demütigt und zusammenschlägt. Die Mutter, eine Realitätsverleugnerin par excellence ohne Persönlichkeit, ist nicht in der Lage, sich und die Kinder in irgendeiner Form zu schützen, sondern ergeht sich in ihrer eigenen Opferrolle und erduldet alles ohne sich zu widersetzen, Hauptsache, der äußere Schein der Familie bleibt gewahrt. Trost und Halt findet Juli, die von klein auf zunächst verzweifelt versucht, mit schulischen und sportlichen Höchstleistungen bei ihrem Vater zu punkten, allein bei ihrem drei Jahre älteren Bruder Bruno, der sie letztlich aber auch nicht vor dem Elend bewahren kann. Die Geschichte gliedert sich in drei Hauptabschnitte, startend in 2007, als Juli sich im Alter von 17 noch im Auge des familiären Orkans befindet und ihr verschlungener Weg sie aufgrund suizidalen Verhaltens in Verbindung mit absoluter Aggression gegenüber ihrer gesamten Umgebung erstmal in die Psychiatrie führt. Dann folgen Zeitsprünge nach 2014 und zuletzt 2016, in denen sie später in Berlin abgetaucht ist, an ihrer Doktorarbeit in Mathematik laboriert, physisch wie psychisch allerdings weiter auf einem labilen Drahtseil balanciert. Und später einen Weg einschlägt, den man so von ihr nie erwartet hätte. Das Buch hatte mich in der ersten Hälfte, zumal Juli die Geschichte ihrer Familie hier weitgehend auch selbst erzählt, mit seiner Realitätsnähe, seiner absolut beklemmenden Figurenzeichnung und den in einer derart zerstörten Familie sich wie zwangsläufig abspulenden Mechanismen und Entwicklungen sofort gepackt. Dazu gehört dann selbstverständlich auch die durchgängig derb-drastische Sprache, die das Ganze unterstreicht und intensiviert. Leider konnte das hohe Level ab der „Berliner Zeit“ aber nicht mehr ganz gehalten werden, was an den irgendwie überzeichneten, konsequent selbstzerstörerischen und sich wiederholenden Handlungsschleifen der Hauptperson wie auch dem eher eigenartigen Schlussteil des Buches gelegen haben mag. Das Thema „häusliche Gewalt“ und deren lebenslange Folgen vor allem für diejenigen Familienmitglieder, die eine mentale (Wieder-)Gesundung im späteren Leben dann eben nicht schaffen, ist hier allerdings brillant eingefangen und thematisiert. Trotz leichter Einschränkungen insgesamt ein überzeugender Debütroman direkt aus dem Leben, der bei mir noch lange nachhallen wird.

zurück nach oben