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Buchdoktor

Posted on 12.6.2022

Mia Sund arbeitet in Greifswald als Faserarchäologin; sie untersucht u. a. Textilreste, die bei Ausgrabungen gefunden wurden. Als ihr ein pommerscher Fischerteppich in ungewöhnlichen Farbtönen zur Begutachtung vorgelegt wird, denkt sie spontan daran, dass ihr jemand mit einer Fälschung eine Falle stellen könnte. Der Teppich ist ein Meisterwerk; denn seine Bilder erzählen je nach Standort des Betrachters andere Geschichten. Mias Denkweise sät bei mir als Leserin Misstrauen, ob die Dinge so sind, wie sie scheinen. Für die pommersche Hafenstadt ist ihre Vorsicht nicht ungewöhnlich; denn die Bewohner lebten 100 Jahre lang unter Herrschern, die sie sich nicht aussuchen konnten. Da Mia erst nach der Wende aus Hamburg nach Ostdeutschland kam, führten meine Theorien jedoch in die Sackgasse. Der Teppich bietet mehrere Ansätze für Mias Recherche. Abgestufte Grüntöne waren schon immer schwer mit Naturmaterialien zu färben; wer könnte über so spezielle Färberkenntnisse verfügt haben? Und die Bordüre am Teppichrand könnte auf die Spur konkreter Personen führen. Mia arbeitet sich in die Geschichte der lokalen Teppichknüpferei ein und begibt sich schließlich auf die Spur alter Handwerkstechniken und der Menschen, die sie entwickelten und lehrten. Die Geschichte von Mia Sund und den Greifswalder Teppichknüpfern beginnt in extrem langen Sätzen, die aus ungewöhnlich kurzen Satzteilen bestehen. Mias sprunghaftes Denken kommt darin treffend zum Ausdruck. Die Geschichte, die sie schließlich zu Papier bringt, verbindet Hafenstädte als Wegkreuzungen in der Geschichte, Motive der Seefahrt, das Textilhandwerk, und das Geschichtenerzählen als eine andere Art von Garn. Wie Geschichten, das Weben und Knüpfen von Fäden und das Seemannsgarn der Region miteinander verbunden sind, empfinde ich als berührendes Motiv, das beim Lesen meine eigenen Geschichten im Kopf hervorbringt. Ich habe mich gefühlt, als würde ich vor dem Teppich mit zur Seite geneigtem Kopf sein Geheimnis ergründen wollen. Ohne zu viel zu verraten: „Fischers Frau“ spielt in mehreren europäischen Ländern, zwischen 1930 und der Gegenwart. Es nimmt Eigenheiten der Küstenbewohner liebevoll auf die Schippe, lässt uns Menschen mit wenig bekannten Handwerksberufen treffen und ihren Wanderungen in Europa nachspüren. Handwerk in Deutschland wurde traditionell schon immer durch Austausch mit Kollegen in der Fremde bestimmt – und allein die Namen von Teppichen können heute noch Fernweh wecken.

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