Lesen macht glücklich
Es beginnt mit einem Knalleffekt Ich gebe zu, ich bin ein großer Fan von Mareike Fallwickls Art zu schreiben. Jedoch bin ich schon vor ihrer ersten Buchveröffentlichung auf sie aufmerksam geworden, da mir ihre Buchbesprechungen auf ihrem Blog Bücherwurmloch enorm zugesagt haben. Oftmals hat sich ihr Geschmack, was Geschichten mit dem gewissen Leidensfaktor angeht, mit dem meinen gedeckt. Und so ist es auch mit ihren Büchern, die allesamt eine Situation als Ausgangspunkt haben, woraus sie jeweils ganz starke Romane geschaffen hat. So auch diesmal. Und doch ist etwas anders als bei den zwei Vorgängern. Der Ton ist härter geworden und die titelgebende Wut springt einem diesmal förmlich ins Gesicht. Denn diese Wut ist vollständig weiblicher Natur und hat unterschiedliche Ursachen, die sich nicht nur, aber hauptsächlich während der Corona- Pandemie aufgestaut haben, und die in diesem Buch mit einem Schlag entweichen. Allein die erste Seite lässt einen beim Lesen stocken und schwanken zwischen Verzweiflung über das Warum, dass nie aufgeklärt wird, und diese „Tat“ an sich, die so schrecklich wirkt. Gerade wenn man selber Kinder hat ist diese erste Seite ein Weckruf und ein Schlag in die Magengrube gleichermaßen. Eine Warnung möchte ich an dieser Stelle gleich noch setzen: Es geht in diesem Buch als Ursache für alles, was passiert, um einen Suizid, der weder aufgeklärt wird, noch das irgendwelche Erläuterungen erfolgen, wie es dazu kommen konnte. Selbst als die Autorin die eigentlich tote Mutter als Widerhall im Kopf einer Figur anlegt, wird es keine Erläuterungen geben. Wie im echten Leben passieren solche Dinge einfach und die, die zurück bleiben müssen versuchen mit der Situation umzugehen. Diese Szene hat mich jedenfalls stark getroffen und ich kann mir vorstellen, dass es psychisch weniger stabile Frauen und Männer wirklich antriggern kann, wenn sie diese Szene lesen und vielleicht eigene Gedanken und Erlebnisse noch einmal durchspielen. Und zum zweiten werden im Verlauf des Buches einige wirklich brutale Szenen aufgezeigt, die keine Konsequenzen nach sich ziehen. Diese Art der Brutalität, so verständlich deren Ausführung auch ist und für die man an manchen Stellen ein innerliches High Five vollführt, da es die Richtigen erwischt, so wirken diese „Hetzjagden“ und Verprügelungen sehr verstörend in ihrer Ausführung und Art. und danach rollt die Lawine über die Leserschaft Helene steht einfach so vom Abendbrottisch auf, nachdem ihr Mann Johannes belanglos fragte „Haben wir kein Salz?“. Steht auf, geht zum Balkon und springt. Einfach so! Ohne Abschiedsbrief, ohne Erklärung! Auf einmal ist die Person aus dem Haushalt weg, die sonst alles ohne großes Aufheben und im Hintergrund erledigt hat: Die Mutter. Aus dem ersten Schock folgen die Reaktionen. Da ist zum einen Lola, die große Tochter, die zwar Helene als Mutter hat, aber Johannes nicht ihr leiblicher Vater ist, und die sich nach und nach aus ihrer Starre befreit, indem sie sich radikalisiert und mit anderen jungen Frauen Jagd auf Männer macht und diese im wahrsten Sinne verdrischt. Oder Sarah, die kinderlose in einer halbwegs zufriedenstellenden Beziehung lebenden Frau, die auch die beste Freundin von Helene war, und die nun vor der Tatsache steht, irgendwie der Familie helfen zu wollen oder sogar zu müssen, weil sie es vorher versäumt hat. Durch ein irres Schuldeingeständnis, dass sie sich selber auferlegt, weil sie Helene einfach nicht geholfen hat während der ersten Pandemiemonate im Jahr 2020, versucht sie das nun umso stärker auszugleichen, indem sie Johannes so gut wie alles abnimmt. Und eben dieser Johannes ist die dritte „wichtige“ Person im Dunstkreis von Helene, der die meiste Zeit nach dem Selbstmord seiner Frau unsichtbar bleibt, sich in Arbeit ertränkt und einfach darauf verlässt, dass Sarah den Haushalt schon schmeißen wird. Doch wie lange wird sich Sarah das gefallen lassen? Und wie lange geht der Wutabbau bei Lola gut? Was muss passieren, damit diese Taten in gute Bahnen gelenkt werden? Ohne Atempause Ein Buch, dass irgendwie keine Antworten auf diese Fragen liefern will und auch nicht muss. Vielmehr ist es ein sprichwörtlicher Faustschlag in die Weichteile der Männer und ein Fingerzeig, was selbst heutzutage immer noch schief läuft zwischen den Geschlechtern und ihren Erwartungen aneinander beziehungsweise an ein Leben miteinander, egal ob mit oder ohne Kinder. Allein schon der Coup, diese Geschichte mit dem Tod der Mutter beginnen zu lassen und diesen Selbstmord komplett im Dunkeln zu lassen ist großartig gelungen, auch wenn man an dieser ersten Seite schwer zu kauen hat, denn sie wirkt nach. Ich habe schon in einigen Rezensionen gelesen, dass sie es schade fanden, keine Gründe für den Tod Helenes zu bekommen. Aber genau das ist es, was die Autorin mit dieser Geschichte nicht wollte. Immer muss der Tod erklärt und gedeutet werden. Hier eben nicht und das ist genau richtig so, weil es im echten Leben oftmals auch keine Hinweise gibt. Und die Zurückgebliebenen mit den Fragen gequält werden, auf die es keine Antwort gibt. Vielmehr wird hier der Gedanke aufgegriffen, was diese Situation mit der hinterbliebenen Familie und Freunden anstellt, was sie danach aus ihrem Leben machen. Und das wird in diesem Buch auf wunderbare Weise aufgezeigt. Zum einen wird Sarah gezeigt. Eine recht erfolgreiche Romanautorin, kinderlos und mit einem Tinderdate, das sie seit Beginn der Coronapandemie an der Backe hat. Sie ist es, die wie selbstverständlich in die Rolle der Ersatzmutter schlüpft und diese Aufgabe am Anfang sogar mit Begeisterung annimmt, vielleicht sogar aus Reue, weil sie Helenes Tat nicht hat verhindern können durch rechtzeitige oder richtige Unterstützung. Doch die Selbstzweifel,die sie nach und nach befallen und die ihr zumindest andeuten, warum Helene gesprungen ist, machen deutlich in welchem Dilemma viele Familien auch heutzutage noch stecken und was die Coronapandemie noch weitaus mehr verschärft hat. Da wird geschwafelt von Gleichberechtigung, von gleichem Gehalt und das auch mal die Männer die Mental Load der Frauen mit abnehmen. Und doch ist es letztendlich immer wieder der Mann, der sich auf die Arbeit hinausredet. In diesem Buch wird das in Person von Johannes dargestellt, der ein etwas schattenhaftes Dasein führt und dadurch wie der hinterletzte Arsch wirkt, weil er Sarah alles übernehmen lässt. Doch seine Beweggründe, sich in die Arbeit zu flüchten, bleiben zu sehr im Dunkeln, als das man ihn hinstellen kann und ihm den schwarzen Peter zuschiebt. Es braucht nur den richtigen Schubs in die richtige Richtung beziehungsweise die richtige Ansage und schon ist er gefordert und wird die Angelegenheit sicher meistern. In meinen Augen wurde dieses Szenario richtig gut aufgelöst. Für mich persönlich war der größere Macho eindeutig der Freund von Sarah, der es sich auf der einen Seite so richtig bei ihr im Haus bequem macht, sich ausbreitet und sogar noch verweilt, obwohl Sarah sehr deutlich macht, dass sie ihn nicht mehr in ihrem Haus haben will. Dieser Typ hat eindeutig die größere Wut bei den zwei männlichen Nebenfiguren verdient und dieses prickelnde Gefühl als er diese endlich abbekommt ist einfach unbeschreiblich, selbst aus meiner männlichen Perspektive. Er hatte es einfach verdient, dieser Chauvinist. Und zu guter Letzt bleibt noch die 15 Jahre alte Lola, die heimliche Hauptfigur in diesem ganzen Ensemble. Erst noch etwas schüchtere Teenager, erwächst zusätzlich zum Tod der Mutter aus einer Situation auf dem Skaterpark heraus eine Wut bei ihr im Bauch, die sie erst im Kampfsporttraining und dann mit drei Freundinnen auf der Straße auslebt, indem die Männer gerächt werden, die es eindeutig verdient haben. Diese Parts der Geschichte sind auch diejenigen, die am meisten Adrenalin ausschütten und teilweise auch etwas fragwürdige Methoden bergen. Aus dem Text wird zwar deutlich, dass es für Frauen meist gar nicht anders geht, als sich auf diese Art zu wehren, da sich die Männer bei Versuchen, Lösungen über Dialoge herbeizuführen immer überlegen fühlen. Und doch bleibt bei alledem ein mulmiges Gefühl haften, da die jungen Frauen das ganze offensiv angehen und dabei recht kriminelle Methoden anwenden. Auch wenn die Opfer es eindeutig verdient haben und sie auf anderen Wegen meist keine Konsequenzen spüren würden, bleibt bei den Taten ein schaler Beigeschmack. Aber auch das ist in meinen Augen im Buch gut aufgelöst, wenn die Methoden an ihre Grenzen gelangen und sich die „Bande“ überlegen muss, wie sie in Zukunft diese Angelegenheiten besser regelt. hinein in die Betreuungsfalle Bodyshaming, Betreuungsfalle, Patriachart, Mental Load und vieles mehr sind Begriffe, die in diesem Buch eine hohe Bedeutung haben und auf verschiedenen Ebene durchgespielt werden. Dabei ist es der Autorin gelungen, ein sowohl spannendes als auch nachdenklich stimmendes Buch zu schreiben. Allein ihr Schreibstil verleitet dazu, dieses Buch in einem Zug durchlesen zu wollen. Dabei stecken so viele Botschaften da drin, die sich an alle richten, die unsere modernen Gesellschaften aufrecht erhalten. Angefangen bei der Betreuung der Kinder, die selbst heutzutage immer noch den Müttern zugeschrieben wird. Elternzeit für Väter? Aber bitte nur die zwei Monate! Gleiches Geld für die Frauen? Bei dem bisschen Teilzeit, was sie arbeiten gehen – No way! Schatz, übernimm doch mal bitte den Haushalt zu 50%! Aber Schatz, ich muss doch 40h die Woche arbeiten. Man merkt in dem Buch und den eigenen Erfahrungen bei sich und anderen Familien, dass immer noch zu viel schief läuft in der Situation von Familien mit Kindern. Doch es steckt noch einiges mehr in diesem Buch. Denn nicht nur die Situation in Familien mit Kindern spielt eine Rolle. Auch die gesellschaftliche Spaltung zwischen Männern und Frauen wird anhand von Lola und ihrem eher feministischen Gedankenansatz durchgespielt, was sich in diesen Passagen, die sich immer mit denen von Sarah abwechseln, wunderbar widerspiegelt. Dort hat Mareike Fallwickl konsequent auf Worte mit männlichem Kontext verzichtet und es fühlt sich richtig natürlich an. Als Beispiel hat sie anstatt des Wörtchens „man“, das in vielen Texten wie selbstverständlich eingesetzt wird, durch das eindeutig neutralere Wörtchen „mensch“ ersetzt. So einfach, so effizient. Allein mit diesem Ansatz regt einen die Autorin zum Nachdenken an und hat es zum Beispiel bei mir geschafft, dass ich öfter über meine Texte gehe und versuche, diese etwas „geschlechtsneutraler“ zu gestalten. Es ist gar nicht so schwer, wie mensch anfangs denkt. Ein machdenklich machendes Buch Dieses Buch lässt einen richtiggehend nachdenklich zurück, weil keine Lösungen angeboten werden. Es wird das Verhalten einer Familie und einer Freundin aufgezeigt, die mit dem Tod der Mutter/Ehefrau beziehungsweise besten Freundin klar kommen müssen. Dabei versteht es die Autorin erneut einen wunderbaren Plot auf die Beine zu stellen, der sich vollkommen natürlich gewachsen anfühlt, der sich wunderbar lesen lässt und jede Menge Gehirnfutter bietet, um zukünftig ein noch besseres, ausgewogeneres Familienleben anzugehen. Ich muss hier natürlich anmerken, dass ich nicht so ein Macho bin, der nur die Füße hochlegt und sich sein Abendbrot servieren lässt. Allerdings hat mir das Buch aufgezeigt, dass immer Verbesserungspotential vorhanden ist für einen positiven Zusammenhalt zwischen Männern und Frauen, Ehepartner*innen und vielen anderen mehr. Ob es nun Mareikes bestes Buch ist? Das würde ich an dieser Stelle mal außen vor lassen und das muss jede*r an seiner eigenen Erfahrung messen. Es ist aber definitiv das mit dem größten Wutpotential. Und für wen ist dieses Buch nun geeignet? Es richtet sich an alle Frauen, die in vielen Sätzen Bestätigung für ihre Wut finden und so vielleicht sehen, dass sie nicht allein mit diesen Problemen sind. Es ist aber auch für alle Männer gut geeignet, um vielleicht endlich aufzuwachen und auf ihre Frauen zuzugehen und sie nach allen Kräften und Regeln zu unterstützen. Dabei muss die Gesellschaft aufwachen, um noch mehr zu bewegen, als aktuell schon geschieht.