Profilbild von Buchdoktor

Buchdoktor

Posted on 2.6.2022

Alice hatte beschlossen, ihr Leben zu beenden. Die Professorin der Uni Taipeh kündigte ihre Stelle, Telefon und Internet und begann ihren Besitz zu verschenken. Für ihr Ziel Schriftstellerin zu werden hatte ihre Lehrtätigkeit ihr nicht genug Zeit gelassen und ohne Mann (in den Bergen verunglückt) und Sohn (in den Bergen vermisst) fühlte Alice sich wie eine leere Hülle. Doch Alice lebt an der Ostküste Taiwans allein in einem ererbten Haus am Meer, das im Dauerregen gerade vom steigenden Meeresspiegel eingekreist wird, verursacht durch den Klimawandel. Ausgerechnet dort, wo menschliche Eingriffe, Erdbeben und Taifune die Landschaft als leere Hülle hinterlassen haben, wird der 1997 erstmals beschriebene pazifische Müllstrudel auf die Küste treffen, hat ihre einzige Nachbarin erfahren. Und Hafay weiß sehr gut, dass auf jede Welle an dieser Küste eine weit größere zweite Welle folgen wird. Die Folgen kann sich kaum jemand ausmalen, aber Alice und Hafay werden dort nicht mehr leben können. Alices Pläne werden nicht allein durch die Hiobsbotschaft vom nahenden Müllstrudel durchkreuzt. Aus dem Müllknäuel steigt ein indigener junger Mann, der aus einer anderen Welt zu kommen scheint. Atile’i stammt von der Pazifikinsel Wayowayo, deren Einwohner ihre Insel bisher für die gesamte Welt halten konnten, weil sie sich nur in sehr enggezogenem Radius aufs Meer trauten. Um ihre Lebensgrundlagen nicht zu zerstören, werden mit ihrem 15. Lebensjahr die zweitgeborenen Söhne traditionell aufs Meer in den Tod geschickt, falls der erstgeborene Sohn überlebt hat. Vorher dürfen sie noch mit jedem Mädchen auf der Insel Sex haben, so dass auch die jungen Frauen ohne Partner eine Chance auf ein Kind erhalten und nicht zwangsläufig allein bleiben müssen. Atile’i ist ein fortgeschickter zweiter Sohn. Seine Begegnung mit dem Müllwirbel rettet sein Leben. Die erstaunliche Insel erkundet er mit der Unvoreingenommenheit eines Indigenen, der noch keine Fremden zu Gesicht bekommen hat. Wo der Strudel auf die Küste treffen wird, kreuzen sich die Wege von Chinesen, Indigenen und Europäern. Hafay, Tochter einer indigenen Arbeitsimmigrantin vom Stamm der Amís, betreibt ein Restaurant, Daho vom Volk der Bunun arbeitet ehrenamtlich u. a. als Bergretter; Alices Mann Thom stammte aus Dänemark und folgte seiner Frau aus Begeisterung für Taiwans Berge. Der Geologe Konrad und seine Partnerin Sarah als promovierte Meeresbiologin stehen für die Perspektive von Nordeuropäern und vermutlich auch für die Gruppe von Experten, denen Bewohner wohlhabender Staaten ungern zuhören. In der ausweglosen Situation, gerade vom Plastikmüll anderer Staaten und ausländischer Schifffahrtslinien begraben zu werden, will Alice jedoch endlich das Schicksal ihres vermissten 10-jährigen Sohns aufklären, indem sie der letzten Tour von Mann und Sohn in die Berge folgt. Ihr Gefährte ist ausgerechnet Atile’i, der mit seiner Ankunft in Alices Augen seinen eisernen Überlebenswillen demonstriert hat und deshalb auch sie retten wird. Neben Alices unmittelbarem Abenteuer geht es hier um Wertschätzung von Meer und Wald in einer Region, in der es Taifune und giftige Schlangen gibt. Aber auch um die Begegnung unterschiedlicher Volksstämme, die ihr Gegenüber mit den Mitteln beurteilen, die ihre jeweilige Kultur ihnen mitgegeben hat. Für mich blieben einige Fragen offen; denn das Konzept dieser tropischen Region auf der Höhe von Hongkong setzt Min-Yi Wu offenbar bei seinen Lesern als vertraut voraus. Für meinen Geschmack sind seine Figuren sehr stark mit der nahenden Katastrophe beschäftigt und weniger mit dem, was Taiwan ausmacht. Min-Yi Wu schafft hier eine ungewöhnliche fantastische Welt auf einem ertrinkenden Kontinent, in der es offenbar Zeitfalten mit Bewegung durch die Zeit gibt und in der man daher zugleich lebend und verstorben sein kann.

zurück nach oben