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Bris Buchstoff

Posted on 27.5.2022

Liebe ist gewaltig, so der Titel des Romandebüts von Claudia Schumacher und ja, das kann sie sein. Im positiven, aber wie im Verlauf der Lektüre sehr rasch klar wird, auch im negativsten Sinn, nämlich gewalt(tät)ig. Wobei man hier schon wieder darüber streiten könnte, ob das dann noch Liebe ist. Vieles in diesem außergewöhnlichen Roman ist sehr gut gemacht, inhaltlich gibt es keinen Roman, der mich zu diesem Thema bisher mehr überzeugt hat, dennoch war ich lange nicht schlüssig, was ich tatsächlich von Schumachers Roman halten soll. Ich musste nach dem zweiten Teil eine Pause einlegen, kam in den dritten Teil schwer wieder rein und habe mit einigen Wochen Abstand nun auch den dritten Teil gelesen. Durch den Abstand, der meinen Lesefluss erst gestoppt hatte, konnte ich aber gleichzeitig über das Gelesene nachdenken und meine erste Sicht auf die Lektüre justieren. Die Bücher, die ich kenne, die sich mit häuslicher Gewalt und verwandten Themen befassen, stellen dieses nicht wie Schumacher direkt ins Zentrum der Erzählung – natürlich nehmen auch dort die Gewalt und damit auch die entsprechenden Szenen viel Raum ein und das Fortkommen der Geschichte und der Protagonisten ist immer davon geprägt. Dennoch ist die Lektüre von Schumachers Roman für mich die erste, die mir das Gefühl vermittelte, die Vielschichtigkeit der Problematik springt mich geradezu an. Gleichzeitig war alles sehr subtil. Grund dafür ist wohl zum einen, dass die anderen Romane oder Sachbücher, die ich zu diesem Thema bisher gelesen habe, eine*n doch sehr zuverlässig wirkende*n Erzähler*in besitzen. Edward St. Aubyns Patrick Melrose Zyklus – heiße Empfehlung, ein Meisterwerk, was die Umsetzung eigenen Erlebens eben nicht als Nabelschau, sondern als echte Literatur angeht - wird von einem zunächst schwerst Drogenabhängigen erzählt. Man könnte vermuten, die Tatsache, dass Patrick Melrose unglaubliche Mengen an verschiedenster Substanzen einnimmt, lässt ihn als nicht vertrauenswürdig erscheinen, was die Vorkommnisse angeht. Doch weit gefehlt – obwohl er kein sympathischer Mensch ist, obwohl er zu Beginn des Zyklus andere Menschen mies behandelt, zynisch ist und niemand, auf den man sich im Leben verlassen kann, erscheint seine Erzählung wahrhaftig. Zwei weitere Bücher, die sich dem Thema widmen, gehen ebenfalls unterschiedlich mit der Darstellung um. Christian Baron schreibt in „Ein Mann seiner Klasse“ auch über Klassismus und dessen Auswirkungen, die autobiographischen Darstellungen sind zwar literarisch und somit verfremdet, dennoch erzählt er nicht in Romanform. In „Befreit“ von Tara Westover wird neben handfester Gewalt eine weitere Ebene aufgezeigt, die sich auch bei Baron findet – Bildung als Schlüssel in eine andere Welt. Sowohl Baron als auch Westover wirken eindeutig authentisch, weil man weiß, dass sie all das, was sie erzählen auch in der einen oder anderen Weise erlebt haben. Beide können sich, zumindest von außen betrachtet, über die Bildung befreien, gehen ihren Weg und haben so etwas wie einen Frieden mit ihrer Vergangenheit schließen können. Schumachers Erzählerin hingegen ist tatsächlich eine sehr unzuverlässige – das reibt sie uns fast unter die Nase, indem sie ihre Erinnerungen an bestimmte Situationen zwar deutlich darstellt, diese aber von anderen Familienmitgliedern verwischen lässt. Als LeserIn weiß man, wie auch Juli, die Erzählerin, nie so genau, was jetzt Realität oder vielleicht falsche Erinnerung oder Traum ist. Fast bis zum Schluss des Romans lässt Schumacher Juli immer wieder an ihren Erfahrungen und die Erinnerung daran, zweifeln. Das Tabu Häusliche Gewalt – ein Thema, das nach wie vor zu wenig tatsächliche Beachtung erlangt. Statistiken gibt es natürlich, doch weil das Thema quasi naturgemäß mit Vertuschung, Verdrängung, Scham und Realitätsrevisionismus verbunden ist, sind diese nicht unbedingt aussagekräftig. Hohe Dunkelziffern können vermutet werden, manche Fälle kommen niemals ans Licht. Grund dafür kann sein, dass die Täter ihre Opfer einschüchtern und sich später reuig zeigen, beteuern, nie mehr die Beherrschung verlieren zu wollen (was gleichzeitig impliziert, sie wären für ihre Taten nicht verantwortlich, würden selbst davon gequält) und die Opfer tatsächlich hoffen oder glauben wollen, dass die Gewaltausbrüche einmalig bleiben und so etwas wie ein Stockholm-Syndrom entwickeln. Eine hochkomplizierte Gemengelage, die man vor allem nicht durch Schweigen auflösen kann und je länger man selbst in solche einer Situation steckt, desto schwieriger wird es, sich daraus zu befreien. Gewalt ist auch nicht immer nur tatsächlich physische Gewalt – sie kann Formen annehmen, die das oder die Opfer sehr subtil steuern und quälen. Und sie zeigt sich erst nach und nach. Schrittweise wird häufig das Bewegungsfeld des Opfers eingeschränkt, der/die Täter/in (meist aber sind es Männer) nimmt starken Einfluss indem er/sie mit scheinbar logischen und vernünftigen Gründen argumentiert. Dabei geht es aber schon hier um Macht und die Etablierung eines Systems. Schwierig wird es vor allem dann, wenn Kinder dem ausgesetzt sind. Zunächst einmal ist es tatsächlich nicht immer sehr leicht, die Zeichen zu deuten oder zu erkennen, dass zum Beispiel der eigene (Ehe-)Partner den (gemeinsamen) Kindern gegenüber gewalttätig wird. Tatsächlich zu vermuten ist es aber, wenn man selbst bereits Opfer wurde, weshalb auch sollte jemand ausgenommen werden, wenn es darum geht, Macht auszuüben. Werden Kinder älter und erkennen, welches System sich hier etabliert hat, versuchen sie im besten Fall, das System zu sprengen, meist werden allerdings auch die Verhaltensweisen der Eltern in der einen oder anderen Weise nachgeahmt. „Aus gutem Haus“ Was häusliche Gewalt zudem noch verschleiern hilft, ist ein gewisses Herkunftsmilieu. Während in den beiden erwähnten Büchern von Westover und Baron die soziale Klasse der Familien eher im unteren Bereich angesiedelt ist, so ist es bei St. Aubyn die absolute Oberschicht Großbritanniens, die ihre eigenen Gesetze hat. Juli Ehre, Schumachers Protagonistin, stammt aus gutem Haus. Beide Elternteile haben Jura studiert, sind Anwälte, die vier Kinder gut versorgt, es fehlt materiell an nichts. Die Oberfläche ist poliert, aber was darunter schlummert, weiß man nie so genau. Juli, die jüngste der vier Kinder, lernt die Leserschaft gleich zu Beginn in ihrer eigentlichen Natur kennen. Sie ist 17 Jahre alt, rebellisch, etwas unsicher, sieht aber viele Dinge sehr klar. Der Ton, den Schumacher hier trifft ist direkt, etwas schnoddrig, aber er bewirkt, dass man das Buch nicht aus der Hand legen will. Trotz der Dinge, die da erzählt werden, weil Juli eine Energie versprüht, die von niemandem anderem in diesem Buch ausgeht. Sie könnte es sein, die alles ans Licht bringt, was zu Hause verwischt wird. Sie erkennt, dass die Gewalt, die vom Vater ausgeht und früher oder später jedes Familienmitglied trifft, gestützt wird. Durch allgemeines Schweigen und vor allem durch ihre Mutter. Im zweiten Teil erleben wir zwar, dass Juli sich auf den eigenen Weg gemacht hat, aber der ist ein schwieriger. Sie steckt sowohl mitten in ihrer Promotion, als auch in einer Liebesgeschichte und verdient „nebenbei“ ihr Geld als Pro-Gamerin. Nachts, wenn sie nicht schlafen kann, zockt sie. Das geht alles über ihre Kräfte und die Beziehung zu Sanyu ist schwierig, denn Sanyu ist eine Globetrotterin und Juli kann sich ihr nicht anvertrauen. Sie schämt sich für die Gewalt, die sie erfahren hat und will die Zeit mit Sanyu nicht belasten - zumal Sanyu nicht ermessen kann, wie schlimm die die Situation im Hause Ehre tatsächlich ist. Distanz vom eigenen Ich Der dritte Teil wird, anders als die beiden ersten, nicht mehr von Juli selbst erzählt, denn hier geht es um Julia und Thilo. Schnell ist klar, Julia ist Juli, doch nicht mer die Person, die wir aus den ersten beiden Teilen kennen. Ihr Treffen auf Thilo, der sie nach einem Ausbruch auf einem Familienfest kennen lernt, lässt Juli eine andere werden. Die inneren Kämpfe, ihre dunkleren Seiten packt sie nach und nach weg und wird so etwas wie ein Vorzeigefrauchen. Sie gibt ihr früheres Leben auf, zieht zu Thilo in die Schweiz, will ihre Promotion dort fertigstellen, ergattert einen Teilzeitjob, der ihr Spaß macht, wird eine andere. Aber immer hat man bei der Lektüre das Gefühl, dass da etwas nicht stimmt. Juli lebt nicht das, was sie sich wünscht, sondern passt sich an. Wird zu dem, was von ihr erwartet wird - die Distanz zwischen der Person, die sie eigentlich sein sollte und möchte und der Person, die sie jetzt verkörpert könnte nicht besser dargestelt werden, als durch den Wechsel der Erzählperspektive. Hier verzahnen sich Umsetzung und Inhalt eins zu eins. Die Figur des Thilo wirkt zunächst solide, doch bald merkt man, auch er hat seine merkwürdigen Seiten. So wie Juli nicht Julia ist, so ist Thilo ebenfalls jemand anderes. Mit der Zeit entpuppen sich Züge, die mehr als unangenehm sind. Er manipuliert Juli, die sich allerdings auch nicht groß wehrt, da sie mit Thilo ruhig sein kann. Diese innere Ausgeglichenheit ist ihr zu diesem Zeitpunkt mehr wert, als ein authentisches Leben. Erst als es zu einer Entgleisung Thilos kommt, als sich Julis wieder zu Juli mausert, wird ihr klar, dass sie alles, was sie einfach weggepackt hat, aufarbeiten muss. Man muss das Grauen verschmerzen Schumacher zeigt eindrücklich, wie vielschichtig das Thema häusliche Gewalt angegangen werden muss, um ein davon unabhängiges Leben aufbauen zu können. Wie sehr und wie lange erfahrene Gewalt deren Opfer oder vielleicht besser Überlebende beeinflusst, ist hart zu ertragen. Im besten Fall kann man sich über eine wohl zwangsweise notwendige Distanzierung den Ernnerungen wieder annähern, um diese zu verarbeiten. Man muss das Grauen verschmerzen ist ein Satz aus dem Roman, der für mich die Quintessenz darstellt, wie eine Verarbeitung gelingen mag - und das ist tatsächlich in all den oben genannten Büchern auch so passiert. Eine schwere Arbeit, die niemand verdient hat, durchstehen zu müssen.

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