Buchdoktor
Fabio Genovesi hat (unter vielen anderen Autoren) in „Die Botschaft der Riesenkalmare“ zuletzt anschaulich gezeigt, dass es ohne Geschichten keine Utopien, keine Entdeckungen und auch keine Problemlösungen geben kann. Samira El Ouassil und Friedemann Karig zeigen, angelehnt an klassische Heldenreisen (stets von Männern) , mit welchen Narrativen die Menschheit aktuell ihre drängendsten Problem zu erklären versucht. Wir erfahren vom Schema aller Legenden aus Reise, Suche, Reifung und Wandlung, über Mentoren, Verbündete und Feinde, von Schätzen, Bewährungsproben und der glücklichen Rückkehr in die vertraute Umgebung. Archetypen von Heldengeschichten kennen wir aus Sagen, Märchen, Filmen, Comics und PC-Spielen, ob ihre historischen Vorbilder in den Masterplots von heute uns bewusst sind oder nicht. Legenden dienten ursprünglich zur niederschwelligen Erziehung für ein Leben im Kollektiv und Vorbereitung auf das Erwachsenenleben; denn nur ein Held, der überlebt, kann uns heute seine Geschichte erzählen. Wer Geschichten liest, hält sich nicht nur geistig beweglich, sondern schafft damit ständig neue Verknüpfungen im Gehirn, die im EEG und MRT sichtbar werden. Narrative zeigen uns, wer wir sind und wer wir sein sollen, bisher demonstrierten sie jedoch oft nur die WASP-Schablone als Normalität, die das Leben von weißen, christlichen, heterosexuellen Männern als Norm vorgibt und alle anderen Lebensformen als unnormal definiert. Narrative als Darstellungsweise werden in „Erzählende Affen“ mit hochinteressanten Themen verknüpft. Welche Stereotypen durch Bilder zu erzeugen sind, wie Soziale Medien und Online-Spiele das Erzählen verändert haben, wie mächtige Einzelpersonen sich „alternative Fakten“ schaffen konnten und welchen Einfluss Werbung und Influencer auf uns haben. Besonders interessant fand ich, wie Moderne Medien das Stammesdenken/den Tribalismus stützen können, indem sie ihre Nutzer durch Fan-Kultur und Belohnungssysteme dressieren, „uns“ und „die Anderen“ streng zu trennen. Wichtige Themen sind die derzeit abnehmende Ambiguitätstoleranz, ebenso wie die aktuell verstörend schwindende Fähigkeit, zwischen Identität und Narrativ zu unterschieden, vereinfacht: Ertragen, dass Personen unterschiedliche Meinungen haben und Diversität menschliche Beziehungen nicht ausschließen muss. Weiter geht es mit „Märchen für Erwachsene“, d. h. Lügen durch Lobbyismus, Profitstreben, korrupte Staatsführer, der Konstruktion von Rasse in der Epoche des Kolonialismus und Verschwörungsmythen. Ähnlich dauerhaft wie der Tellerwäscher-Mythos (Jeder kann durch Leistung Erfolg haben) haben sich zwar die Mythen über das Verhältnis von Mann und Frau halten können, sie scheinen jedoch wenig tauglich zur Lösung aktueller Probleme zu sein. Spätestens zur Erklärung von Klimakrise, Pandemien, dem Incel-/Lone-Wolf-Phänomen als Teil des Terrorismus und dem rasanten Zuwachs ultrarechter Positionen scheinen mir klassische Narrative nicht mehr geeignet, weil all diesen Phänomenen ein Ursachenbündel zugrundeliegt, das für meinen Geschmack auch hier nicht befriedigend aufgedröselt wird. „Erzählende Affen“ liest sich - in kleinen Portionen – angenehm, erweitert den eigenen Blickwinkel und bietet eine umfangreiche Literaturliste. Zufrieden bin ich am Ende nicht, weil Narrative zwar für die Zuhörer/Leser bequeme Transportmittel sind, die drängenden Probleme der Gegenwart jedoch Empirie und kausales Denken erfordern.