Yvonne Franke
In dieser Woche habe ich einen Roman gelesen, der mich schon seit einiger Zeit mit aufreizendem Augenaufschlag, von seinem Platz im Regal aus, angeflirtet hatte. "Los, lies mich", sagte er mit verführerischer Stimme. " Ich weiß da was, das muss ich dir erzählen." Dann ging alles ganz schnell. In den nächsten Tagen waren wir unzertrennlich, wälzten uns gemeinsam auf der Küchenbank, in der Badewanne, auf der frischen Wiese im Hof – einmal kurz sogar am Ufer der Elbe. "Ich erzähle dir vom Ende der Einsamkeit", hat er mir versprochen und dann hat er doch mit dem Tod begonnen. Von seiner Kindheit hat er gesprochen, davon, wie er damals immer besonders mutig gewesen war – bis zu diesem einen schrecklichen Tag – und dann schon Angst davor hatte, überhaupt mit jemandem zu sprechen. Auch davon, wie seine Geschwister auf ganz andere Art traurig waren als er und sie sich dadurch fremd wurden. Aber er erzählte auch von wahrer Freundschaft, die immer wiederkehrt, auch wenn man lange glaubt, man hätte sie verloren. Und von der Liebe und von neuem Mut, der in Wahrheit ganz alt ist. Und als er mir seine ganze Geschichte erzählt hatte (seine und die von Alva mit dem schönsten schiefen Zahn der Welt), bedankte ich mich und bat ihn, dort auf der Fensterbank auf mich zu warten. Ich würde gleich wiederkommen, hab ich gesagt, um seine Geschichte aufzuschreiben und anderen davon zu erzählen. Aber kaum hatte ich mich umgedreht, war er verschwunden. Und niemand will's gewesen sein. Am wenigsten ich.