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Yvonne Franke

Posted on 23.5.2022

Siri Hustvedts Roman "Was ich liebte", im Original erschienen im Jahr 2003, kann man schon fast zu den modernen Klassikern der Weltliteratur zählen. Jedenfalls kann man jetzt bereits vermuten, dass er noch einigen weiteren Generationen etwas bedeuten wird. Bis heute bleibt das erfolgreichste Werk der Amerikanerin mit norwegischen Wurzeln emotional und intellektuell tief erschütternd, kann ich ganz frisch berichten, kurz nachdem ich es gerade zum allerersten Mal gelesen habe. Mindestens einen Moment gab es, der mir so nah ging, dass ich achtgeben musste, mich nicht zu tief hineinfallen zu lassen. Dabei steigt die Autorin durchaus analytisch in die vielschichtigen Lebenswelten ihrer Protagonist*innen ein. Doch gerade die Genauigkeit mit der sie tiefe Trauer, Begehren und Erwartungen seziert, legt Gedanken- und Gefühlsverknüpfungen offen, die man sonst am liebsten sogar vor sich selbst im Dunkeln lässt. Hustvedt hat eine konzentrierte Schicksalsgemeinschaft von sieben Menschen aus dem New Yorker Künstlermilieu des ausgehenden letzten Jahrhunderts herausgeschält, sie nebeneinander und übereinander gelegt und rote Fäden zwischen ihnen gespannt, wieder zerschnitten und neu verknotet. Da ist der Erzähler des ganzen, Leo, der Kunstwissenschaftler, der uns durch die Leben seiner großen Lieben und damit seines eigenen führt, hauptsächlich, um selbst zu ergründen, wie all diese leidenschaftlichen Wesen zu Erinnerungsstücken in einer Schreibtisch-Schublade werden konnten. Hustvedt durchdringt nicht nur all diese Figuren, sondern auch deren komplexe künstlerischen und wissenschaftlichen Arbeiten ( z.B. erfindet sie erstaunliche Werkzyklen eines bildenden Künstlers so detailreich, dass man ihr eine weitere Karriere auf diesem Feld durchaus zutraut) in einer solchen Gründlichkeit und intellektuellen Fülle, dass einem die sechs Jahre, die sie brauchte um "Was ich liebte" zu schreiben, absurd kurz erscheinen. Fast sorgt man sich um sie, denn die Welt in dieser Genauigkeit betrachten zu können, muss oft schmerzhaft sein. Und dann will man doch nie wieder eines ihrer Worte versäumen.

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