Buchdoktor
Kurz vor dem Abitur muss sich die 18-jährige „Hetty“ auf dem Weg zu ihrer Freundin durch eine Anti-Atomkraft-Demonstration quetschen, die gerade ihren Heimatort durchquert. J.L. Carrs 1988 im Original erschienener Entwicklungsroman spielt zurzeit der Thatcher-Ära Ende der 80er Jahre im Fenland nördlich von Cambridge. Ethel Birtwisle, die sich Hetty nannte, erinnert sich heute als Erwachsene an ihre Lehrerin Miss Braceburn, die ihre literaturbegeisterte Schülerin unbedingt fördern und zum Studium ermuntern wollte. Als es mit ihrem Vater zu einem Konflikt um Hettys seiner Ansicht nach unpassende Lektüre kommt, wird sie davon überrumpelt, dass der „Hauptdarsteller“, wie sie ihren Vater zynisch nennt, nicht ihr leiblicher Vater ist. Sie wurde als Baby direkt aus einer Klinik in Birmingham adoptiert; ihr adoptierter jüngerer Halbbruder war ein Findelkind. Hettys Adoptivmutter wirft mit kryptischen Andeutungen die aufmüpfige Tochter aus dem Haus, angeblich, um sie vor dem cholerischen Vater zu schützen. Noch ehe sie ihre Abiturnoten erhalten hat, bricht Hetty entschlossen nach Birmingham auf, um ihre leibliche Mutter zu suchen. Fortan nennt sie sich Hetty Beauchamp. Schon auf der Bahnfahrt trifft sie einen altertümlich charmanten Passagier, der ihr Arbeit und Unterkunft in der Pension von Rose Gilpin-Jones vermittelt. Roses Pension hat exzentrische Gäste zu bieten und wird zu Hettys Refugium. Zugleich wird an dieser Stelle deutlich, dass J.L. Carr seine Provinz-Romane in einem eigenen Universum angesiedelt hat; wir treffen u. a. auf den betagten Kriegsveteranen Mr. Peplow und auf Mrs. Foxberrow aus „Die Lehren des Schuldirektors George Harpole“. Durch ihre Arbeit bei Rose reift Hetty und erfährt von Schicksalen, auf die die Schule sie nicht vorbereiten konnte. Auf ihrem Weg stets gestützt von erwachsenen MentorInnen muss Hetty sich jedoch mit ihrer leiblichen Mutter auseinandersetzen, bevor sie ins Studentenleben aufbrechen kann. Als Insider des britischen Bildungssystems ist von J.L. Carr ein hochironischer Umgang mit dem Thema Bildung zu erwarten. Seine jungen Lehrerfiguren und älteren Kriegsveteranen konnten mich in seinen vorhergehenden Romanen eher überzeugen als seine 18-jährige Hetty. Ethel/Hetty habe ich als altersloses Wesen erlebt. Die Konfrontation mit ihrer Adoption verarbeitete sie in einer Art, die m. A. dem Umgang mit sozialer Elternschaft in den 80ern weit hinterherhinkte. Streckenweise habe ich daran gezweifelt, dass die Ereignisse wirklich in der Thatcher-Ära spielen und nicht Jahrzehnte früher. Meine Einschätzung der Provinz-Romane Carrs hat sich jedoch entscheidend geändert durch die Entdeckung, dass sein literarisches Fenland ein ganzes Universum bilden wird, wenn erst alle Romane übersetzt sind.