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Buchdoktor

Posted on 17.5.2022

Úrsúla Aradóttir hat in Island noch nicht wieder Fuß gefasst nach Einsätzen für Ärzte ohne Grenzen beim Ausbruch des Ebola-Virus und in einem Flüchtlingslager. Doch anstatt ihre traumatischen Erlebnisse mit therapeutischer Hilfe zu verarbeiten, schiebt sie alltägliche Eheprobleme vor. Das Angebot, befristet für ein Jahr den erkrankten isländischen Innenminister zu vertreten, bietet ihr daher einen willkommenen Vorwand, die nötige Trauma-Therapie aufzuschieben. Úrsúla krempelt sofort die Ärmel hoch. Im überschaubaren, sicheren Reykjavik hält sie einen Fahrer für überflüssig. Sie durchkreuzt damit die Pläne des Personenschützers Gunnar, der für den erhofften Posten hart trainiert hat und sich für die Idealbesetzung hält. Als Úrsúla sich über die dringendsten Probleme informieren lässt, hätte eine weniger ausgebrannte Person sich vermutlich gefragt, ob von ihr innerhalb eines Jahres Wunder erwartet werden, damit andere Politiker sich an den heißen Themen die Finger nicht verbrennen. Auf ihrer Agenda steht der ungeklärte, Aufsehen erregende Fall eines Polizisten, der die minderjährige Babysitterin der Familie vergewaltigt haben soll, ein Konflikt um die Freiheit der Namensgebung in Island, der ultrarechte, nationalistische Kreise erbost, und ein Straßenbauvorhaben, das einem verurteilten Kriminellen die Taschen füllen wird. An anderer Stelle blickt ein Obdachloser fassungslos auf ein Zeitungsfoto, das die Interimsministerin mit einer Person zeigt, von der seiner Ansicht nach große Gefahr für sie ausgeht. Úrsúla wird sich gezwungenermaßen und unter den Augen der kritischen Öffentlichkeit damit auseinandersetzen müssen, wie ihr Vater vor Jahren starb. Als wären das noch nicht genug Konfliktherde, betritt eine junge Frau die Bühne, die als Bewährungsmaßnahme in einem Reinigungsunternehmen arbeitet und der bisher noch nie etwas geschenkt wurde. Mit einer großen Zahl an – interessanten – Personen und Handlungsfäden, der Einbindung Sozialer Medien und extrem schnellen Schnitten legt Lilja Sigurðardóttir einen spannenden, originellen Politthriller vor. Die Komplexität des Plots steht m. A. nach im Missverhältnis zu extrem kurzen Kapiteln, teils nur eine Seite lang, die den Roman durch zahlreiche unbedruckte Seiten unnötig aufgebläht wirken lassen.

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