Gabriele
Dörfliche Kindheitserinnerungen in der Natur Wer Naturbeschreibungen liebt, sollte sich dieses Buch unbedingt gönnen. Über weite Strecken war ich entzückt von der buntschillernden Welt, die hier beschrieben wird. Sie trägt die Geschichte von Max, dem elfjährigen Jungen, der in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ins Dorf kam und gleich schlechte Erfahrungen mit der Gruppe um den gewalttätigen Tschernik machen musste: Sein dreizehn Monate jüngerer Bruder bekam einen Stein an den Kopf und starb. Während die Erwachsenen es als Unglück sahen, das sie auf die schwächliche Gesundheit des zartbesaiteten Jungen zurückführten, wussten die Kinder, was wirklich geschehen war. Max quält sich in diesem Buch durch die Erinnerungen: „Mein Bruder war ein zartes, ratloses, wie aus Gold gesponnenes Geschöpf. Er hatte die großen grünblauen Augen unserer Mutter. Auf seinem blonden Haar glänzte ein rötlicher Schimmer, und er trug es länger als wir übrigen Jungen mit unserem Kahlschnitt, den uns der Dorffriseur alle vier Wochen verpasste.“ Zum Glück findet Max Freunde, mit denen er der Bande um Tschernik das Handwerk zu legen versucht. Als LeserInnen begleiten wir ihn auch durch seine ersten erotischen Erfahrungen, aber vor allem lernen wir die Natur durch seine Augen zu sehen. „Wir lauschten erschrocken auf ein Rascheln im Dickicht, auf ein Knacken von Ästen jenseits der Anhöhe – waren das Schritte? - und grinsten uns erleichtert an, wenn wir sahen, wie sich eine Blindschleiche, ein Wurm aus schillerndem Kupfer, zwischen Halmen von Schilfgras schlängelte und ein Rehbock in hohen Sprüngen durch den leuchtenden Farn setzte.“ „Zu Füßen des in sich verwundenen Stammes lag das Altwasser wie dunkles Glas, wie geölt, lichtgeädert, darauf schwammen lanzettförmige Weidenblätter, wie mit Bedacht ausgestreut.“ „Die Sträucher und Bäume zu beiden Seiten begleiteten in einem Farbenspiel, das mit olivvioletten Berberitzen und metallisch glänzenden schwarzroten Pflaumen begann, gefolgt von purpurbraunem und satt tiefrotem Ahorn über das kupfrige und bronzene Rot von Buchen und in das flammende, leuchtende Feuerrot von anderen Berberitzen am Ende des Bogens gipfelte und mir den Atem verschlug.“ Solch farbenprächtige Naturbeschreibungen tragen den Roman. Anfangs trafen mich die überbordend bildhaften Sätze mitten ins Herz, doch die Vielzahl erschlug mich im Laufe des Buches. Sie heben sich angenehm von der heute manchmal bis zur Unkenntlichkeit reduzierten Sprache ab; allerdings hätte ihnen ein wenig Reduzierung gut getan. Ausgesprochen misslungen fand ich, das in manchen Kapiteln plötzlich ein anderes Kind erzählt. Es irritiert und durchbricht den Lesefluss, wenn nirgends darauf hingewiesen wird. Alles in allem ist es Volker Widmann in seinem Erstlingswerk gelungen, die Zeit kurz nach dem zweiten Weltkrieg wachzurufen. Er thematisiert die Strenge der Erwachsenen, die mit dem Erlebten durch Schweigen fertig zu werden versuchten, aber auch die Freiheit der Kinder, die oft tun und lassen konnten, was sie wollten. Fazit: Wer sich in einem Buch viel Handlung und Fortgang wünscht, ist hier fehl am Platze. Wer jedoch das gemächliche Zuschauen genießen kann, wird hier fündig.