Yvonne Franke
Malaga ist eine berühmte Seiltänzerin und die größte Attraktion des Zirkus Franconi. Nicht nur ihrer Geschicklichkeit wegen oder wegen ihrer schmetterlingshaften Anmut, sondern auch, weil ihre Kunst noch erstaunlicher wirkt, wenn man weiß, dass sie blind ist. Und Signore Franconi, der Zirkusdirektor, sorgt dafür, dass jeder es weiß und treibt Malaga zu immer gefährlicheren Kunststücken an. Bis sie eines Tages beginnt zu zittern und aus 20 Metern Höhe in die Manege stürzt. Dort liegt sie und sieht die Farben ihrer Kindheit vor sich, die lieben Gesichter ihrer Eltern und dann die Welt. Benjamin Lacombe erzählt Malagas Geschichte in wirklich ganz verblüffenden Bildern. Das zunächst in düsteren Schattenwelten lebende zarte Jugendstil-Wesen, ganz entrückte Künstlerin, stürzt auf durchscheinenden Seiten in Sequenzen aus der Dunkelheit ins Licht. Und als sie die Augen öffnet, lässt Lacombe ihre Welt in strahlenden, saftigen Farben vor Fülle fast platzen. Ein Sprung aus der Zartheit in ein mit impressionistischen Pinselstrichen aufgetragenes Grün, das man fast riechen kann. Eine Traumwelt aus sich auflösenden Erinnerungen, zunächst, aus der heraus sich dann Schritt für Schritt echtes Sehen entwickelt. Wieder beginnend auf durchscheinenden Pergamentpapier-Seiten beginnt Malaga erste Silhouetten zu sehen. Benjamin Lacombe selbst war vor Jahren für einige Stunden erblindet. Eine aus starker Trauer entstandene Stresserscheinung, die natürlich Panik auslöste. Er erzählt von einem Schwindelgefühl, das sich in Malagas Sturz vom Trapez spiegelt. "Malaga, die Blinde" von Benjamin Lacombe gehört zu den aufregendsten und intensivsten Bilderbucherlebnissen, die ich bisher hatte. Ich glaube, ich werde es in den nächsten Jahren an sehr viele Menschen verschenken wollen. Einfach nur, um ihre Blicke zu sehen, wenn sie die ersten Seiten aufschlagen. Es ist erstaunlich.