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gwyn

Posted on 5.5.2022

Der Anfang der ersten Geschichte: «In den Rosses hatte die Heiratszeit begonnen, die Zeit zwischen dem Dreikönigstag und dem Beginn der Fastenzeit. Conall Ferry wollte heiraten. Das würde ihm jedoch nicht leichtfallen, denn er war von scheuem unbeholfenen Wesen. Er ging niemals zum Tanz oder zu anderen Geselligkeiten, wo ein junger Mann Mädchen treffen und Bekanntschaften schließen konnte. Er besuchte nur einmal im Jahr die Messe, und zwar am St. Patrick’s Day. Es war jedoch nicht der mangelnde Glaube, der ihn von der Messe fernhielt. Nein, es war der Mangel an Kleidung. Er hatte nur Lumpenkram, den seine Mutter auf dem Jahrmarkt des Dorfes für ihn gekauft hatte. Lange Zeit schien ihm das nichts auszumachen. Die Nachbarn waren sogar der Ansicht, dass er die Lumpen bevorzugte, denn so konnte er sich, wann immer er Lust hatte, vor dem Feuer auf dem Lehmboden ausstrecken.» Das Leben selbst macht einem gern mal einen Strich durch die Planung. Erstens kommt es anders und zweitens, als man denkt. Genau darum geht es in diesen Erzählungen von Altmeister Séamus Ó Grianna; meist ist die Liebe verstrickt. In Irland hat das Geschichtenerzählen Tradition, Storytelling gehörte früher zu einem netten Abend dazu. Séamus Ó Grianna, geboren 1889, entstammt einer Familie von Dichtern und Geschichtenerzählern. Seine Kurzgeschichten stammen aus seiner Zeit, geben ein gutes Gefühl für das damalige Leben der einfachen Menschen, ihrer Traditionen, ihres kargen Lebens, ihrer Träume. Die Protagonisten sind Bauern und Fischer und Meister der Schwarzbrennerei, leben in Donegal am nordwestlichsten Zipfel Irlands. So muss Conall Ferry erfahren, was dabei herauskommt, wenn man schüchtern den Heiratsvermittler seines Vertrauens zur Auserwählten sendet, um zu werben, und dieser selbst interessiert ist ... Eine Hose spielt in dieser Geschichte eine wichtige soziale Rolle. Es ist herrlich, wie an einem Kleidungsstück das Sozialgefüge erklärt wird. Denis der Träumer propagiert in seinem Dorf die Liebesheirat, bis er selbst von seiner großen Liebe enttäuscht wird. Er findet sich am Ende bei einer unattraktiven Ehefrau wieder, ist froh, dass er ein Schaf als Mitgift heraushandeln konnte. Besonders ans Herz ging mir eine Geschichte, bei der um Missverständnisse geht. Eine Frau soll zwischen zwei Männern wählen, die um sie werben. Sie will sich Zeit lassen. Dann geschieht ein Unglück auf See und einer der beiden Kerle denkt, er könne sich bei der Frau einen Vorteil verschaffen, wenn er nun todesmutig zur Hilfe eilt. Die Frau entscheidet sich für keinen der Bewerber, sondern geht nach Amerika, wo sie ihr Glück macht. Viele Jahre später begegnen sich die beiden wieder ... «Im größeren Teil der Rosses war die Schönheit der irischen Sprache verschwunden, und die Menschen machten grauenhafte Versuche, sich auf Englisch auszudrücken. Sie irrten zwischen zwei Kulturen umher ... » Ó Griannas hintergründige Erzählungen voll trockenem Humor versetzen uns in eine Epoche, in der bittere Armut herrscht. Analphabeten, die keine Zeitung lesen, in ihrem eigenen Mikrokosmus leben, zurechtkommen müssen mit dem, was ihnen das Leben bietet. Fein gezeichnete Figuren, Geschichten, die am Ende ganz plötzlich eine Wende erhalten, mit der der Leser nicht rechnet. Ó Griannas besticht mit erzählerischer Kraft und einer feinen Beobachtungsgabe in diesem Klassiker. Auch Sozialkritik unterliegt vielen Erzählungen. Auswanderer, die zurückkehren, sich in der Heimat fremd fühlen, sie haben die Verbindung zu ihren Familien und Freunden verloren. Geschichten, die das Leben schreibt. Ich hätte gern noch mehr davon! «Die Londoner Regierung versuchte, der Sprache endgültig den Garaus zu machen. Nach der großen Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts war es verboten, in der Schule Irisch zu sprechen. Die Kinder mussten einen Holzstock um den Hals tragen, in den für jedes irische Wort, das sie sagten, eine Kerbe eingeritzt wurde ... Anzahl der Kerben überschritten, wurden die Eltern des Kindes mit Lohnabzug bestraft.» Ralf Sotscheck erklärt in seinem einem Nachwort einiges über die irische Sprache, die Entwicklung, den großen Wortschatz entgegen dem Englischen, das stilvolle Fluchen und er berichtet einiges über Séamus Ó Grianna. Séamus Ó Grianna wurde 1889 als Sohn einer Familie von Dichtern und Geschichtenerzählern im County Donegal geboren, einer der stärksten Bastionen der irischen Sprache und ihrer mündlichen Erzähltradition. Er schrieb auf Irisch und auf Englisch und setzte sich zeitlebens für die irische Unabhängigkeit und den Erhalt der irischen Sprache ein. Ó Grianna starb 1969 in Dublin.

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