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gwyn

Posted on 4.5.2022

Der Anfang: «Jakob wartet. Wenn Herr Hofmann in dieser Nacht wieder nicht kommt, dann wäre es das zweite Mal. Inzwischen wird es nachts überhaupt nicht mehr richtig dunkel, daran merkt Jakob, dass es endgültig Sommer sein muss, Mittsommer vielleicht. Irgendwann ist er durcheinandergekommen mit den Strichen, die er mit Bleistiftstummel auf den Rand einer Zeitung gemalt hat, in die Herr Hofmann sein Essen eingeschlagen hatte, für jeden Tag einen.» Ein grandioser Jugendroman ab 14 Jahren, den ich auch Erwachsenen empfehlen mag. Hamburg, Juni 1945: Die Stadt liegt in Trümmern. Drei Jugendliche haben es überlebt. Traute, Hermann und Jakob werden sich kurz über den Weg laufen in dieser ereignisreichen Woche. Jakob ist ein Halbjude, «jüdischversippte», sein Vater verstorben – so war die Familie nicht mehr geschützt und seine jüdische Mutter in den letzten Kriegstagen nach Theresienstadt deportiert worden. Jakob hat sich versteckt, lebt in den Trümmern, wartet auf das Kriegsende. Trautes Vater ist Bäcker – auch die Familie hat es nicht leicht. Denn der Vater muss streng mit der Lebensmittelzuteilung jedes Gramm Mehl und jede Lebensmittelmarke abrechnen. Ein gestohlenes Brot wird sofort bemerkt. Die Wohnung muss die Familie mit einer ostpreußischen Flüchtlingsfamilie teilen. Hermans Vater hat den Krieg überlebt, doch beide Beine sind amputiert. Er kann nicht arbeiten und nicht mal alleine zu Tante Meyer (hamburgisch für die Toilette). Im zerstörten Deutschland ist so schnell nicht an Prothesen oder einen Rollstuhl zu denken – schon gar nicht an eine Parterrewohnung - welch Glück, überhaupt eine zu haben. Die Mutter arbeitet im Trümmerdienst – eine harte Arbeit. Hermans Job ist es, den Vater einen halben Stock tiefer zum WC zu tragen. Aber manchmal ist eben niemand zu Hause ... In seiner Wut ist der Vater unerträglich, beschimpft Mutter und Kind, sieht sich in seiner Würde als Mann verletzt. Hermann fühlt sich seiner Freiheit beraubt, seiner Zukunft. Er kann doch nicht ewig das Kindermädchen für den tobenden Vater spielen. «Nur irgendwie ganz tief in ihm drin, ahnt Hermann plötzlich, was er nicht ahnen will. Wenn die Feindpropaganda vielleicht die Wahrheit ist, würde so vieles zusammenpassen. ... hatte sich niemals gefragt ... Warum aus den Arbeitslagern, von denen man doch auch nicht reden durfte, weil es sie nicht gab, nie einer zurückgekommen war?» Kann es denn sein, fragt sich Hermann, der ehemalige Hitlerjunge, der immer noch das Hemd der HJ trägt, dass alles Lüge war, was man ihnen erzählte vom Vaterland; von Ariern und Untermenschen? Eine Lüge, was man über die Juden verbreitete? Hat man sie wirklich umgebracht? Wer ist hier eigentlich Freund und wer Feind, die Engländer, die Amerikaner, die Nazis? Traute, deren Freundinnen beim Feuersturm 1943 ums Leben gekommen sind, begreift langsam, dass diese merkwürdigen Leute aus Ostpreußen, Furchtbares mitgemacht haben. Vielleicht Schlimmeres als sie selbst im bombardierten Hamburg – dass diese Leute ebenso ungern in der Wohnung bei ihnen leben, wie ihre Familie sie gezwungenermaßen aufnehmen musste. Und Jakob begreift, dass der Krieg beendet ist. Kann er den Menschen vertrauen oder muss er sich weiter verstecken? Sind Juden und «jüdischversippte», wie er, nun wieder freie Menschen? Lebt seine Mutter noch? «In Hermanns Kopf ist der Krieg noch nicht wirklich vorbei, nicht der Krieg und nicht die Jahre davor, wie sollte diese Welt denn auch so schnell daraus verschwinden! Was so lange Wahrheit war, wird nicht auf einen Schlag Lüge.» Drei Perspektiven aus verschiedenen Lebensläufen während einer Kindheit im Zweiten Weltkrieg, bzw. die Zeit direkt danach. Eine Woche voller neuer Eindrücke und Erkenntnisse. Eine Welt in Trümmern, voller Entbehrungen und Hunger und die Hoffnung auf bessere Zeiten. Seelen, die genauso zerstört sind wie die Häuser der Stadt, unendliches Leid für die Familien; jeder hat eine Last zu tragen. Wie soll man etwas ablegen, was einem die gesamte Schulzeit eingetrichtert wurde? Das alles ist schwer zu verstehen, sackt langsam in die Köpfe der Kinder. Kann denn alles falsch gewesen sein? Wut bei dem einen, Angst bei dem anderen, Scham bei Traute. Begreifen von Zusammenhängen, eine Menge Trauerbewältigung bei allen Beteiligten und doch gibt es am Ende für jeden ein Stück Hoffnung für die Zukunft. Kirsten Boie schafft es, die Schrecken des Krieges in diesem Jugendbuch eindringlich darzustellen. Ein historisch korrektes Buch mit wichtigen Fakten, aber gleichzeitig hochaktuell mit Parallelen zum Ukrainekrieg. Am Ende gibt es ein Glossar, um Originalbegriffe aus der Zeit zu erläutern – besser wäre es gewesen, dies an den Anfang zu stellen. Ein Jugendroman, der für mich in jede Schulbibliothek gehört und den ich als Unterrichtsmaterial empfehle. Ein Jugendbuch, das niemanden kalt lässt zum Thema Zweiter Weltkrieg, Holocaust, Pogrome, Nachkriegszeit – auch für Erwachsene empfehlenswert. Der Oetinger Verlag gibt eine Altersempfehlung ab 14 Jahren. Das ist für mich richtig, denn das Buch ist nichts für zarte Nerven. Absolute Empfehlung – auch sei nochmal auf den wichtigen Vorgänger der Serie hingewiesen, siehe unten. Kirsten Boie ist eine der renommiertesten, erfolgreichsten und vielseitigsten deutschen Kinder- und Jugendbuchautorinnen. Sie wurde 1950 in Hamburg geboren, studierte dort Germanistik und Anglistik. Zwei Semester besuchte sie, gefördert durch ein Auslandsstipendium der Hamburger…

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