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gwyn

Posted on 1.5.2022

Der Anfang: «Du hättest eigentlich gar nicht geboren werden dürfen.› Das sagt mir Moma seit sechzehn Jahren. Moma, das ist meine Mutter, ich nenne sie so, seit ich denken kann.» Ein Roman, der mich sehr berührt hat, eine reale Geschichte, die fast täglich passiert. Frauen kommen aus Osteuropa zu uns, um unsere Senioren zu pflegen, in Schwarzarbeit oder völlig legal. Im schlimmsten Fall sollen sie 24 Stunden bereit sein, an 7 Tagen. Sie wohnen bei den Alten, schlafen auf Notbetten und Sofas, haben keine Privatsphäre, keine Freizeit, sprechen oft kaum die Sprache der Menschen, die sie pflegen – sie arbeiten für einen Hungerlohn! Diese Seite ist uns bewusst. Aber wie sieht es bei diesen Frauen zu Hause aus? Denn sie lassen die eigene Familie zurück, um sich um Fremde zu kümmern. «Meine Kinder, ich habe in Mailand eine Arbeit gefunden. Ich muss fort, damit ihr studieren könnt und anständig zu essen bekommt. Mit Papa darüber zu reden ist sinnlos, deshalb bin ich heimlich gegangen.» Daniela aus Rumänien arbeitet in Mailand, rund um die Uhr; sie ist zuverlässig und liebevoll als Pflegerin und als Kinderfrau. Doch was macht ihre Abwesenheit mit ihren Kindern? Sie jobbt im Ausland, damit es ihren Kindern gut geht, um eine Privatschule und die Universität für sie zu bezahlen. Ihr versoffener Mann bekommt nichts auf die Reihe. Es ist ihre Entscheidung zu gehen. Mitten in der Nacht, ganz heimlich. Je länger sie in Italien verweilt, um so mehr entfremdet sich die Familie. Die Gemeinschaft fällt auseinander, alle Familienmitglieder leiden, jeder für sich, und der Zusammenhalt zerfällt. Heute sind wir entsetzt, wenn wir von kolonialer Sklavenarbeit hören. Doch letztendlich handelt es sich bei diesem System um ein modernes Sklaventum. Meist arbeiten die Frauen rund um die Uhr, soweit es überhaupt einen Arbeitsvertrag gibt, wird dieser als Haushaltshilfe getarnt, mit einem Vierzigstundenvertrag. Manchmal wird noch etwas für die Unterkunft auf der Klappliege und für Verpflegung abgezogen. Demente Menschen betreuen, Bettlägerige, oder Senioren, die alleine nicht mehr klar kommen. Nur zum Einkauf gehen sie vor die Tür. «Mein Vater arbeitet als Maurer in Deutschland, aber ich hab ihn noch nie gesehen, vielleicht gibt es ihn gar nicht›, sagte sie ... ‹Meiner ist LKW-Fahrer, aber der redet sowieso immer nur Sch..., der könnte genausogut Zirkusclown sein.» Der zwölfjährige Manuel und seine ältere Schwester Angelica bleiben allein zurück. Die Schwester soll sich um den Bruder kümmern, vom Vater ist nicht viel zu erwarten. Die Großeltern wohnen im Nebenhaus. Nur ein Jahr. Und dann: Nur noch ein Jahr. So wird es immer sein. Telefonkontakt mit der Mutter. Auch der reduziert sich; die Kinder wollen nicht mehr mit ihr sprechen. Drei Perspektiven: Manuel, Daniela und Angelica; was macht diese Trennung aus ihnen? Daniela schickt Geld und Dinge, die die Kinder «ordern». Und weil sie nicht vor Ort ist, bekommt sie nicht mit, wie Manuel an der teuren Privatschule scheitert. Das hat verschiedene Gründe. Marco Balzano beschreibt im Nachwort seine intensive Recherche bei den Arbeitsmigrantinnen. Er hat mit vielen Pflegerinnen gesprochen, ist nach Rumänien gereist. Manche Frauen leiden an einem Burnout, das sie als «Italienkrankheit» bezeichnen. Zuneigung zu den fremden Menschen – Entfremdung von der eigenen Familie und Schuldgefühle gegenüber den Kindern. Die Frauen im Schatten, versteckt hinter der Gardine, die niemand wahrnimmt. «Opa hat mal gesagt, wer sich wäscht und saubere Kleider trägt, der ist nie arm. Arm ist, wer den Dingen hinterherrennt, die alle wollen.» Gut, manches ist ein wenig oberflächlich gestaltet und sogar ein Stück zu klischeehaft. Aber rundum gefällt mir das Buch trotz aller Mängel sehr gut. Marco Balzano sensibilisiert uns für eine Thematik, beleuchtet sie von allen Seiten; und er hält uns den ungemütlichen Spiegel vors Gesicht, wenn wir mit Fingern auf die schlechten Arbeitsbedingungen im Ausland zeigen. Ein lesenswerter Roman! Marco Balzano, geboren 1978 in Mailand, ist zurzeit einer der erfolgreichsten italienischen Autoren. Er schreibt, seit er denken kann: Gedichte und Essays, Erzählungen und Romane. Neben dem Schreiben arbeitet er als Lehrer für Literatur an einem Mailänder Gymnasium. Mit seinem Roman ›Das Leben wartet nicht‹ gewann er den Premio Campiello, mit ›Ich bleibe hier‹ war er nominiert für den Premio Strega. Er lebt mit seiner Familie in Mailand.

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