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gwyn

Posted on 1.5.2022

Der Anfang: «Die erste Nachricht kam an einem Sonntag im September. Ich saß auf der Bank im Schatten hinter dem Haus und rauchte eine Zigarette, Laptop auf den Knien, und ich ahnte nicht, dass das der Moment war, in dem sich meine Verhältnisse verschoben, erneut, ganz leicht nur.» Rut Ziegler, eine Drehbuchschreiberin und Journalistin, einst als TV-Moderatorin, erhält von Unbekannt eine Nachricht über den Facebookmessenger: «Weißt du eigentlich von der Affäre deines prächtigen Ehemannes?» Natürlich weiß sie das! Was soll diese Info? Vier Jahre nach dem Tod ihres Mannes lebt sie allein in dem Holzhaus auf dem Land, das Ludwig selbst gebaut hatte. Mit dem Tod von ihm wurde sein Geheimnis aufgedeckt: Er hatte eine Freundin und wollte Ruth anscheinend verlassen. Mit der Jüngeren ein neues Leben aufbauen. Nun folgen weitere Nachrichten, Beleidigungen. Immer wieder dämonisierende Nachrichten, jeden Tag, es werden immer mehr. «Wirst noch merken, wie allein du bist, du eingebildete Kuh», sind harmlose Kommentare. Auch ihre Freunde erhalten misogyne Mitteilungen über sie, Verleumdung, Beschimpfungen. Wer ist dieser Nachrichtenschreiber? Oder ist es eine Frau? Zumindest weiß dieser Mensch sehr viel über ihr Privatleben. Nicht beachten! Dann hört es auf, denkt sie. «Als Ludwig starb, dachte ich, mir könne nicht mehr viel passieren. Ich fühlte mich sicher. Ich hatte überlebt, dass mein Mann gestorben war, was sollte noch geschehen. Das glaubte ich damals jedenfalls.» Fakenews, Lügen, die im Umfeld erzählt werden, und immer die Frage: Wer ist es? Niemandem aus ihrem Freundeskreis traut sie es zu. Vielleicht ihre Fastnachfolgerin, die so mit dem Tod von Ludwig umgeht? Oder die Nachbarin, oder, oder ... Der Stalker macht weiter, schreibt und schreibt. Sie spürt die Blicke der Nachbarn, der Freunde und Kollegen, unausgesprochene Zweifel an ihrer Person bleiben hängen; man leitet die Nachrichten an sie weiter. Es muss doch etwas dran sein! Je öfter das Gleiche behauptet wird, um so mehr wird es zur Wahrheit. Ruth holt sich Rat. Man kann nichts machen, denn der Absender wechselt ständig die Identität, ist nicht zu ermitteln und eigentlich sagt der Schreiber nichts Strafrelevantes. Das mögen Lügen sein, die Beleidigungen halten sich unter dem Radar, auch wenn sie treffen und versuchen, sie zu erniedrigen. Ruth mag den Menschen als Stalker definieren – aber rechtlich ist er keiner. Lästig, aushalten, nicht beachten! Eines Tages wird es garantiert aufhören. Aber der Schreiber macht immer weiter – auch mit den Nachrichten an ihr Umfeld. Woher her weiß der / die das alles? Ihre Freunde sind genervt. Irgendwann mag auch keiner mehr mit Ruth über das Thema reden. Die einzige, mit der sie sich austauschen kann, ist ihre Freundin, eine Psychotherapeutin. Aber auch die will sie nicht ständig belästigen. Sie trifft sich mit Simon Brunner, die Beziehung ist fragil, wird immer wieder unterbrochen; Ruth kommt zum Schluss, der Mann ist nicht beziehungsfähig. Doch er zieht sie an, wie das Licht die Motte. Der Therapeut ist ein guter Zuhörer, auch mit ihm kann sie sich über den Stalker austauschen; man bleibt ja in Freundschaft verbunden. Ruth will nicht alles in sich allein reinfressen. In einem zweiten Strang geht es um Ludwigs Tochter, die bei Ruth und Ludwig aufgewachsen ist. Die junge Frau hat ein Kind bekommen; nur möchte sie kein Wort über den Vater äußern. Ruth hat ein gutes Verhältnis zu ihr, will sie auch nicht drängen, auch wenn sie ahnt, dass wesentlich mehr hinter diesem Schweigen steckt. «Es fordert Leute heraus, wenn sie deine Stärke spüren und deine Unabhängigkeit und manche von ihnen wollen dir das dann wegnehmen. Sie wollen dir zeigen, dass du gar nicht so stark bist und so unabhängig, wie du glaubst. Und sie beginnen ein Kräftemessen, ihre Kraft gegen deine, ohne dass du es merkst, und dann merkst du es.» Frauenverachtung und digitale Gewalt, eine starke Frau wird verleumdet. Vorurteile gegen unabhängige Frauen sind hier fein verpackt, Frauen die eine Haltung haben, sich nicht klein machen lassen. Dieser Schreiber will Ruth heulen sehen, psychisch fertig machen. Doch sie probiert es mit Gelassenheit: Spinner, hört irgendwann wieder auf. Aber der hier macht weiter, versucht sie in ihrem Umfeld zu diffamieren, erzählt immer wieder die gleichen Lügen, wobei er sehr tief in ihr Privatleben greift. Er versucht sie als Schlampe darzustellen, die alles vögelt, was bei drei nicht auf den Bäumen ist, eine, die hinter jedem Mann her ist, die alle vor den Kopf stößt, die gewissenlos ist, Männer belästigt, eine die viel zu laut ist. Männliche Attribute. Eine Ruth, die sich nicht knicken lässt, was den Stalker ärgert, weil sie ihm den Stinkefinger zeigt, nie auf seine Nachrichten reagiert. Die Ich-Erzählerin erzählt von Misogynie im Alltag, auf der Straße, im Berufsleben. Eine Frau, die dem trotzt. Eine Ruth auf der Suche nach dem Urheber der Nachrichten, Detektivarbeit, ein Whodunnit im weitesten Sinn. Sie wird am Ende den Stalker identifizieren. Die Autorin wird ihn an seiner Sprache erkennen. Die Ich-Erzählerin steht häufig im Widerspruch mit sich selbst. Ihre Ehe war zu Ende – das hatte sie selbst festgestellt, wollte Ludwig verlassen – und doch trauert sie um das Familienleben, wünscht sich Ludwig zurück, seine Stabilität – gerade jetzt. Sie weiß, dass Simon nicht der richtige Mann für sie ist, hält ihn auf Abstand, wenn er sie erniedrigt. Doch immer wieder lässt sie sich auf ihn ein. Eine starke Frau mit Schwächen. Literarisch gut aufgebaut mit feinen Leerstellen, eine prägnante Sprache, ein spannender Roman.

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