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letterrausch

Posted on 22.4.2022

Eine Frau – weiß – fährt mit ihrem Sohn – schwarz – flussaufwärts zur leiblichen Mutter des Jungen. So könnte man die Handlung von Lorena Salazars Debütroman „Der Fluss ist eine Wunde voller Fische“ zusammenfassen. Doch täte man dem Buch unrecht, stellte man es so verkürzt und vereinfacht dar. Denn eines wird schon auf den ersten Seiten der Lektüre deutlich: Hier hat man es mit Literatur zu tun und die funktioniert zumeist auf mehreren Ebenen. Die Kolumbianerin Salazar, Jahrgang 1992, hat kreatives Schreiben studiert und zunächst Kurzgeschichten veröffentlicht. „Der Fluss ist eine Wunde voller Fische“ war eigentlich „nur“ als Abschlussarbeit für ihr Masterstudium gedacht, doch der Text fand so viel Zuspruch, dass sie schließlich einen Verlag dafür begeistern konnte. Auf der Handlungsebene geht es um eine namenlose Ich-Erzählerin, die eine Reise über den Atrato auf sich nimmt, um das Kind, das sie aufzieht, mit seiner leiblichen Mutter bekannt zu machen. Auch das Kind, immer nur „der Junge“ genannt, bleibt während dieser Reise namenlos. Die beiden besteigen zusammen mit anderen Menschen ein Boot, das ganz offenbar Siedlungen und Städte miteinander verbindet, so wie es bei uns ein Überlandbus tun würde. Man bewegt sich in gemächlicher Geschwindigkeit vorwärts, weshalb die Reise mehrere Tage in Anspruch nimmt. Und so findet sich auf diesem Boot eine Reisegesellschaft zusammen, die sich nahekommt, sich aber trotzdem fremd bleibt. Man erzählt von sich selbst, schwatzt, teilt Essen und Geschichten. Für die Erzählerin ist diese Reise ins Ungewisse auch eine Reise in ihre eigene Vergangenheit als Weiße, die zwischen lauter Schwarzen aufgewachsen ist und demnach immer eine Außenseiterin blieb. Erst der – schwarze – Junge, der ihr anvertraut wurde, macht sie zu einem Teil ihrer Umgebung, ihrer Region. Er verknüpft sie mit ihrer Heimat. Lorena Salazar lässt viele Eindrücke auf die Erzählerin einprasseln. Mir ihr besuchen wir kleine, verarmte Ortschaften und niedergebrannte Hütten. Wir nehmen an einer Totenwache teil und beobachten das Leben am Flussufer. Gleichzeitig sinniert die Erzählerin über das Muttersein im Allgemeinen und ihre spezielle Situation. Sie fragt sich, was eine Mutter ausmacht, was eine Familie und eine Gemeinschaft. Am Ende dieser Reise wird die Begegnung mit der leiblichen Mutter des Jungen stehen, die das Baby damals bei der Erzählerin gelassen hatte, weil sie selbst schon drei Kinder hatte und sich nicht um noch eines kümmern konnte. Was sich an dieser Situation geändert hat, warum es nun doch zu einem Kennenlernen kommen soll, erfahren wir erst ganz zum Schluss. Das Unbehagen fährt aber auch vorher schon immer mit im Boot: Denn die Unsicherheit, ob der Junge mit ihr nach Hause zurückkehren wird, bleibt die ganze Zeit greifbar. Man ahnt schon: Viel passiert zunächst nicht in diesem kurzen Roman, aber das ist auch nicht das Ziel. Das meiste schwingt zwischen den Zeilen, zwischen den Gedanken der Erzählerin, zwischen ihren poetischen Betrachtungen dessen, was sie sieht und erlebt. Ja, der Roman beeindruckt mit seiner Erzählstimme, mit den lyrischen Satzkaskaden und der fast traumhaften Atmosphäre. Als westlicher Leser, der sich mit Kolumbien, dem Schauplatz des Romans, quasi gar nicht auskennt, kann man sich davon forttragen und wegschwemmen lassen und wird eine wunderbare Leseerfahrung haben. Und doch gibt es noch eine weitere Ebene, denn spätestens am erschreckenden Schluss werden auch Fragen von politischen und gesellschaftlichen Konflikten angeschnitten, aber nicht ausdiskutiert. Kolumbien-Kenner nehmen hier sicher mehr mit als „unbedarfte“ Leser. Für mich kam der Schluss jedenfalls unerwartet und ich frage mich, ob die kleinen Anspielungen in diese Richtung auf fruchtbareren Boden fallen würden, wenn man mehr Hintergrundwissen hätte. Doch mehr will ich dazu gar nicht sagen, möchte ich den Schluss doch keineswegs vorwegnehmen. Das ungekürzte Hörbuch wurde von Elke Appelt eingesprochen. Sie klang für mich etwas zu jugendlich, zu frisch. Ich hätte mir eher jemanden gewünscht, der wärmer, gar mütterlicher klingt und auch in der Stimme schon ein paar Ecken und Kanten mitbringt. Das Lyrische des Tons lag ihr dagegen ausgesprochen gut. Alles in allem eine sehr lohnende Lektüre. Wenn schon ein Debüt so stark daherkommt, kann man gespannt sein, wie es mit Lorena Salazar weitergeht!

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