miss_pageturner
Ich bin Gideon war ein Buch, mit dem ich zwar einen holprigen Start hatte, dessen Sogwirkung ich mich schlussendlich aber nicht entziehen konnte und das mich dann doch noch ziemlich begeistern konnte. Umso neugieriger war ich daher auf den zweiten Band der Reihe und dachte dieses Mal sollte ich, da ich ja nun schon ein Band, gelesen hatte, mich besser in der Welt zurechtfinden. Doch bei allen guten Geistern, nichts und niemand hätte mich auf diesen zweiten Band vorbereiten können. Es lebe das Chaos, es lebe das Genie Wenn man sich bisherige Rezensionen zu Ich bin Harrow anschaut, findet man doch mehrere sehr enttäuschte Stimmen, die das Buch zu verwirrend, zu chaotisch, zu ansprechend fanden. Ich könnte jetzt an dieser Stelle versuchen diese Argumente zu zerstreuen und sagen, dass alles nur übertrieben und es in Wirklichkeit nur halb so schlimm wäre, aber das kann ich nicht. Denn ich bin ehrlich zu euch und so muss auch ich sagen, dass mir dieses Buch so einiges abverlangt hat. Es hat mich mehrere Anläufe gekostet und letztendlich brauchte ich ganze 17 Tage, um es durchzulesen (die vorherigen Versuche nicht mitgerechnet). Ich bin Harrow liest sich nicht leicht, ja manchmal hat man sogar das Gefühl, die Autorin will es bewusst uns Leser*innen schwer machen, doch was genau macht dieses Buch zu einer Herausforderung? Nun, es sind vor allen zwei Faktoren, die maximale Verwirrung stiften: Zum einen wird die Geschichte auf zwei Zeitebenen erzählt, das ist jetzt noch nicht allzu schwierig, die gegenwärtige Zeitlinie wird jedoch über weite Strecken des Buches in der 2. Perspektive, also der Du-Perspektive erzählt. Das ist tatsächlich erstmal etwas gewöhnungsbedürftig, macht aber im Verlauf der Handlung immer mehr Sinn und zumindest ich kam nach einer Eingewöhnungsphase relativ gut damit klar. Für viel mehr Fragezeichen hat da die Tatsache gesorgt, dass das, was wir aus Band eins zu kennen glauben, nicht das ist, woran Harrow sich erinnert. An dieser Stelle empfehle ich allen Leser*innen einfach zu akzeptieren, dass Harrow sich an eine andere Version erinnert. Die Antworten kommen dann irgendwann schon von ganz allein. Man muss also als Leser*in an den Punkt gelangen, an dem man akzeptiert: Scio me nihil scire (Ich weiß, dass ich nichts weiß). Ist man gedanklich dort angelangt, wird alles leichter, versprochen und es entfaltet sich eine immer noch sehr komplexe, aber auch wahnsinnig kreative und innovative Story. Es fällt mir an dieser Stelle nicht schwer, das Wort Genialität in den Mund zu nehmen. Harrow the Ninth Was ebenfalls anders, als beim Vorgänger ist, ist die Protagonistin. Statt Gideon begleiten wir nun Harrow und ich gestehe, dass ich mir vor dem Lesen Sorgen machte, ob das für mich funktionieren würde, da ich Gideon absolut großartig fand, Harrow in Band eins jedoch nicht ganz so leiden konnte. Glücklicherweise schafft es Muir uns Harrow in diesen Nachfolger verständlicher zu machen. Der Roman nimmt sich sehr viel Zeit für Harrows Gefühls- und Gedankenwelt, bei der oft auch Illusion und Wahn eine Rolle spielen, sodass das Buch auf langen Strecken wie ein Psychothriller daherkommt. Das mag für manche langatmig sein, für mich war es aber genau das, was ich gebraucht habe, um Harrow nun ebenfalls ins Herz zu schließen. Das Gefühl einen Psychothriller vor sich zu haben wird auch dadurch verstärkt, dass die Figurenkonstellation in diesem Nachfolger im Vergleich zu Ich bin Gideon deutlich reduziert ist. Der Schauplatz ist ähnlich isoliert wie Haus Caanan, doch mit weitaus weniger Geheimnissen und Mystik, sodass die Handlung dieses Mal vor allem von den Interaktionen des kleinen Figurenkreises getragen wird. Man muss sowas schon mögen, aber in meinen Augen gestaltet Tamsyn Muir ihre Charaktere alle so einzigartig und auch exzentrisch, dass es gut funktioniert und mir war tatsächlich auf 704 Seiten nicht langweilig. Im letzten Drittel belohnt die Autorin unser Durchhaltevermögen dann mit ein paar Antworten. Einiges hatte ich im Verlauf der Handlung schon erraten, anderes waren wirklich gelungene Twists und das Ende wirft einen dann wieder n eine völlig andere Situation, sodass ich schon jetzt den dritten Band kaum erwarten kann. Fazit: Während des Lesens habe ich dieses Buch in Gedanken gerne mit einem garstigen Biest verglichen. Es schnappt und wert sich gelesen zu werden und man muss regelrecht mit ihm einen Kampf ausfechten. Aber Himmel, Arsch und Zwirn (diesen Ausdruck würde Gideon lieben), es lohnt sich diesen Kampf aufzunehmen, denn wer das Biest bezwingt, wird mit einem fantastischen Serienuniversum belohnt, das vor kreativen Ideen nur so strotzt, bekommt eine absolut unvorhersehbare Handlung mit genialen Twists und Charaktere, die sich nie in die Karten schauen lassen. Ich bin Harrow ist keine leichte Kost, doch einmal in seinen Sog geraten, lässt es einen nicht mehr los.