Profilbild von Buchdoktor

Buchdoktor

Posted on 12.4.2022

Paula McGrath erzählt in ihrem zweiten Roman von Frauen aus zwei Kontinenten, die ihrer vorbestimmten Rolle davonlaufen. Dr. McCarthy arbeitet in der Gegenwart als Ärztin in Dublin. Beruflich ist sie gerade von einem Medizinskandal in Anspruch genommen, als ihr Lebensgefährte sie mit einem attraktiven Stellenangebot dazu zu überreden sucht, zu ihm nach London zu ziehen. Doch sie müsste dazu ihre pflegebedürftige an Alzheimer erkrankte Mutter in Irland im Pflegeheim zurückzulassen. Im amerikanischen Maryland soll die noch minderjährige Alison/Ali nach dem Tod ihrer Mutter von Großeltern aufgenommen haben, die sie kaum kennt und denen ich nicht zutraute, mit einer sehr jungen, sehr respektlosen Jugendlichen klarzukommen. Als Ali spontan abhaut und ohne Auto augenblicklich zum Freiwild gewalttätiger Männer wird, vermutete ich, das zentrale Thema des Romans würde sein, dass Frauen stets einen hohen Preis zahlen, wenn sie ihrer vorgeschriebenen Rolle davonlaufen, während Täter oft ungeschoren davonkommen. 30 Jahre zuvor flieht Jasmine aus der irischen Provinz und scheitert nach kurzer Zeit in London. Nach ihrer Rückkehr setzt sie sich in den Kopf, Profi-Boxerin zu werden, obwohl Frauen-Boxkämpfe in Irland offiziell verboten waren – und dieser Weg ein Leben in der Illegalität bedeutet hätte. Eine Icherzählerin blättert zum ersten Mal in ihrem Leben auf, was in ihrer Jugend in Irland minderjährigen Schwangeren geschah. Sie wurden verstoßen, ins Kloster zu Nonnen gesteckt, die sie als herausragend boshaft empfanden, und gezwungen, ihre Kinder zur Adoption freizugeben. Von den Erzeugern dieser Kinder hörte man kaum etwas, vermutlich wagten sie nicht, sich zu ihrem Nachwuchs zu bekennen. An diesem Punkt kam mir das irische Referendum zur „Reisefreiheit“ in den Sinn, das immerhin 1992 großzügig erlaubte, dass von da an minderjährige Opfer sexueller Gewalt nach England zum Schwangerschaftsabbruch reisen „durften“. An diesem Punkt vermutete ich, dass das Thema des Buches Scheinheiligkeit im Windschatten der katholischen Kirche sein würde. Welche Verbindung zwischen ihren Frauenfiguren aus mehreren Generationen besteht, konnte Paula McGrath lange vor mir verbergen, und ich folgte beim Lesen eigenen Assoziationen. Besonders bei der Verknüpfung zu Alison in den USA wollte der Groschen einfach nicht fallen. Ob ein Plot so raffiniert verborgen und verschachtelt werden muss, finde ich fraglich, aber sehr passend zu den raffinierten Konstruktionen, zu denen McGraths Figuren von ihren Lebensverhältnissen gezwungen waren. Die provinzielle Scheinheiligkeit Irlands in jener Zeit finde ich hier grandios getroffen. Ein bewegender Roman mit glaubwürdigen Figuren – und einigen schwer zu ertragenden Szenen.

zurück nach oben