sabinewinkler
Ein Stück Zeitgeschichte – leider etwas oberflächlich Das Ehepaar Hilde und Karl übersiedelt wegen Karls Demenz ins Seniorenheim. Hilde holt vorher noch eine Kiste mit Briefen vom Dachboden und erinnert sich beim Lesen zurück an ihre Jugend, an die Trennung von ihrem Verlobten, der endlich Arbeit in Berlin gefunden hatte, an das NS-Regime und an das plötzliche Verschwinden ihrer Nichte. Zusätzlich erforscht ein Hobbyhistoriker den Verbleib der jungen Frau ... Das Cover ist sehr passend zum Thema gewählt: dicke weiße Wolken mit bedrohlichen dunklen Abschnitten verweisen auf das aufgestaute Gebilde der verdrängten Erinnerungen, die sich nun zu entladen drohen. Der Schreibstil ist sehr schön und fließend, in den Briefen scheint er mir allerdings zu gehoben für einfache Leute aus einem niederösterreichischen Dorf - und an manchen Stellen auch zu modern. Der Roman wird über zwei Handlungsstränge erzählt; zum einen basiert er auf dem Briefverkehr der Jahre 1938 bis 1945, zum anderen gibt es eine Gegenwartsschiene, die sich innerhalb eines Monats im Sommer 2008 abspielt. Ich durfte das Buch im Rahmen einer von der Autorin kommentierten Leserunde kennenlernen. Dabei stellte sich heraus, dass ich wohl nicht erkannt habe, worum es im Buch ginge, und vieles falsch verstanden habe. Es sei ein stilles Buch, kein Kriegsbuch, und stelle das Leben kleiner Leute und deren Auseinandersetzung mit der Vergangenheit dar. Diesen schönen Ansatz habe ich verstanden und ich finde, dass es sich dabei um einen idealen Aufhänger handelt, sich mit – auch österreichischer - Geschichte auseinanderzusetzen. Dennoch bleibt für mich vieles oberflächlich und schwammig – und leider auch widersprüchlich. Die ersten hundert Seiten weisen viele Wiederholungen auf; die Gegenwart konzentriert sich auf Teetrinken im Garten, die Briefe kreisen immer um dieselben Themen. Diese von der Autorin beabsichtigten Wiederholungen stellten den Zusammenhalt des jungen Paares dar. Als die beiden aber endlich verheiratet und Eltern sind, bleibt Hilde nicht bei ihrem Mann in Berlin, sondern pendelt öfters im Jahr die 600 Kilometer zwischen gemeinsamer Wohnung und Elternhaus. Es stellt sich die Frage, warum ihr Mann sie ständig mit dem Kind wegfahren lässt – noch dazu in Kriegszeiten. Dies widerspricht nämlich der Meinung der Autorin, dass Hilde einer Generation von Frauen angehörte, die sich ständig beugen und den Männern anpassen musste. Eine recht einseitige Ansicht, wie ich finde, die auf diese Weise außerdem die Unterstützung des NS-Regimes durch die Frauen jener Zeit zu Unrecht abzumildern versucht. In Karls Briefen konnte ich keine explizite, außergewöhnliche Begeisterung zum damaligen Regime erkennen - und daher auch nicht die angekündigte Aufarbeitung der Vergangenheit. Er verwendet kein einziges Mal die obligate Grußformel, die damals durchaus auch in privater Korrespondenz üblich war. Um den Mechaniker dennoch in engere Verbindung mit dem Regime zu bringen, konstruiert die Autorin am Ende des Romans Abschnitte außerhalb der Korrespondenz, die Karl bereuen lassen, „so vieles zurückhalten und verheimlichen“ zu müssen. Auch Unklarheiten, betreffend Hildes elterlichen Bauernhof, werfen Fragen auf: ob nun der gesamte Hof, nur die Felder – oder auch die Tiere? - verpachtet wurden; ob Hildes Schwester, die bei einem Bauern im Dorf als Magd arbeitet, doch auch den elterlichen Hof zusätzlich bewirtschaftet (und wie das praktisch zu schaffen ist); wieso man mit eigenen Tieren, Bauerngarten (und Feldern?) Hunger leidet und dennoch ein paar Mal jährlich Zugfahrten nach Berlin finanzieren kann. Trotz des Bestrebens, das Leben einfacher Leute in den Kriegsjahren wiederzugeben, geht der Roman nicht aufs Alltägliche ein. Der Leser erfährt das Hungern und Frieren der Menschen, sonst aber sehr wenig über die damalige Lebensweise. Detaillierte Beschreibungen, wie genaue Stückzahlen von Gebäck und Mehlspeisen werden aufgeführt, außerdem Hubraum und Zylinderanzahl von Flugzeugen wie aus dem Sachbuch zitiert, auf der anderen Seite ist wie selbstverständlich z.B. von frisch aufgebrühtem Kaffee die Rede, ohne zu erwähnen, dass es sich damals wohl kaum um echten Bohnenkaffee gehandelt haben wird. Gerade als Roman mit historischem Hintergrund sind diese Informationen aus dem Alltag für Leser mit weniger Hintergrundwissen aber ein wichtiger Aspekt. Dieser seltene Dachbodenfund bot eine einmalige Gelegenheit sich mit diesem wichtigen Abschnitt der Geschichte auseinanderzusetzen – aus Sicht einfacher Leute, aus erster Hand, authentisch. Leider wurde die Chance in diesem Roman nur mäßig genützt. Womöglich ist auch eine unglückliche Auswahl der Briefe schuld daran. Sprachlich ist die Geschichte sehr schön umgesetzt, inhaltlich bleibt sie leider oberflächlich.