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Babscha

Posted on 4.4.2022

Deutschland 1951. Eine Nation im Wiederaufbau, man gewinnt langsam seinen Stolz zurück, pflegt wieder deutsche Werte und Tugenden, lässt es sich gut gehen, blickt nach vorn. Das Wirtschaftswunder ist bereits gelebte Realität, alte Seilschaften aus dunkler Zeit werden reaktiviert bzw. gefestigt, eine Hand wäscht die andere, wir sind wieder wer, alle Daumen nach oben. Zumindest bei dem Teil der Bevölkerung, der immer schon das Geld und damit das Sagen hatte. Entscheidungspositionen und Schnittstellen in Wirtschaft und Politik wie auch Führungsämter in Gerichten, Banken und bei der Polizei werden geschickt mit alten Nazigrößen besetzt, die es geschafft haben, beim ungemütlichen Seegang der Investigation ihrer Vergangenheit durch die Siegermächte in der Nachkriegszeit nicht über Bord zu gehen. Und das soll natürlich auch so bleiben, mit allen Mitteln. Denn vollständige Unwissenheit über bzw. Nichtteilnahme an den Gräueln der Kriegs- und Vorkriegszeit bleibt weiter Trumpf und das Gebot der Stunde. Und damit kommen denn auch so viele Menschen einfach durch, dass einem heute immer noch der Mund offen stehen bleibt. In dieses Szenario hinein platziert der Autor seinen umwerfend gut geschriebenen, fesselnden teilfiktionalen Roman, eine perfekte Mischung aus echtem Zeitzeugnis und Kleinstadtstory. In Opladen, heute ein Stadtteil Leverkusens, ist es genau wie anderswo. Der 14jährige Ludwig Stadler, Hauptfigur des Buches, folgt zusammen mit seiner Mutter aus dem bayerischen Gauting seinem Vater, der vor einigen Jahren als Polizist dorthin versetzt wurde. Was er nicht weiß, ist, dass sein Vater und dessen Kollegen wie auch andere Honoratioren der Kleinstadt, im Krieg Mitglieder der SS waren, über Jahre bei Tötungs- und Säuberungskommandos eingesetzt wurden und jetzt gerne den alten Geist wieder aufleben lassen würden. Ludwig ist ein grundehrlicher, sympathischer, aber leider auch naiver Charakter, lange ohne die Gabe, zwischen den Zeilen lesen zu können. Weitere Hauptpersonen des Buches sind Leonhard Birnbaum und seine jugendliche Tochter Luise, ein Jude, der vor dem Krieg mit seiner Familie aus Opladen fliehen musste, Jahre im KZ verbracht und seine Frau in Auschwitz verloren hat. Vater und Tochter kehren nun zurück und versuchen, in ihrer alten Heimatstadt wieder Fuß zu fassen. Ludwig und Luise erkennen zunehmend eine Seelenverwandtschaft, die sich parallel zur Rahmenhandlung des Buches entwickelt. Dreh- und Angelpunkt und der besondere Reiz des Buches ist die Brisanz und Fragilität der NS-Vergangenheiten vieler Beteiligter, die diese unter allen Umständen geheim halten wollen, dabei auch vor Mord an Leuten, die ihnen gefährlich werden könnten, nicht zurückschrecken und der gutbürgerlichen Fassade ihrer Familien, hinter der sich Morast und gut zusammengekehrter Unrat verbergen. Kohl führt zunächst gemächlich in das tägliche Leben und seine Protagonisten ein und beschleunigt das Ganze auf der Strecke dann bis zum stimmigen Finale ab dem Punkt, an dem die jungen Leute durch Zufall Dokumente in die Hand bekommen, mit denen sowohl Ludwigs Vater wie auch viele weitere Beteiligte ihrer Kriegsverbrechen überführt werden könnten. Ein tolles, äußerst konsequent und offen geschriebenes Buch, auch mit viel interessantem Lokalkolorit, das das Grundanliegen seines Autors in jeder Zeile widerspiegelt und den Leser/die Leserin nochmal tief eintauchen lässt in eine aus heutiger Sicht zunächst unfassbare Zeit überlebenswillengetriebener Verleugnung, Geheimnistuerei und massiven Selbstbetrugs. Jedoch nicht zuletzt aufgrund der aktuellen weltpolitischen Entwicklungen äußerst aktuell ist. Leseempfehlung!

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