dajobama
Unser Teil der Nacht – Mariana Enriquez Ein wahrlich beeindruckendes Werk, das sich meiner Meinung nach dem Leser fast zwangsläufig ins Gedächtnis einbrennen muss. Man muss es nicht mögen, „gefallen“ will diese Geschichte gar nicht, aber die Genialität der Erzählstruktur, des Schreibstils und der Idee, kann man kaum leugnen. Das ist meine subjektive Ansicht. Grob gesagt ist dies eine Familiensaga und eine berührende Vater-Sohn-Geschichte vor der atemberaubenden Kulisse Argentiniens. Mariana Enriquez hat sich hier über 800 Seiten Zeit genommen eine unglaublich dichte und komplexe Handlung über mehrere Jahrzehnte zu entspinnen. Entstanden ist ein Werk, das sämtliche Genregrenzen sprengt. Zu Beginn des Romans lernt man Juan und seinen Sohn Gaspar kennen. Der Vater, der sich augenscheinlich nicht bei bester Gesundheit befindet, versucht seinen Sohn zu schützen - vor einem Orden, der Anspruch auf Gaspar erhebt. Die Hintergrundstory ist kompliziert und wird erst nach und nach aufgelöst. Es ist wirklich schwer, diesem Roman gerecht zu werden und auch nur die Handlung wiederzugeben. Zu sehr verschwimmen die Grenzen, zu vielfältig und komplex sind die Motive. Ich hoffe trotzdem meinem Entsetzen und zugleich meiner Begeisterung Ausdruck verleihen zu können. Die Vater-Sohn-Geschichte zwischen Juan und Gaspar wird sehr eindringlich vermittelt – wenn auch nicht immer in positiver Weise. Anfangs meint man eine große Sorge und Liebe Juans für seinen Sohn zu spüren. Im weiteren Verlauf sein Verhalten nicht immer nachvollziehbar. Es ist ein sehr düsteres Buch. Die Verzweiflung und Aussichtslosigkeit der Figuren sind stets spürbar in einer beinahe erdrückenden Atmosphäre, die alles überlagert. Eine immens große Rolle spielt schwarze Magie, die dunkle Seite der Macht. Mir persönlich war das vor Lesebeginn nicht bewusst. Die Autorin zieht bereits im ersten Kapitel, das etwa 200 Seiten umfasst, sämtliche Register. Es erinnerte mich stellenweise an einen Horrorschocker. Es ist blutig, grausam, abartig. Aber – es ist sooo gut geschrieben. Anderenfalls hätte ich vermutlich auch gar nicht weitergelesen. Der erste Teil schockiert, denn viele Erklärungen und Einordnungen folgen erst später. Auch den aus Lateinamerika bekannten „magischen Realismus“ glaubte ich hier wiederzuerkennen. Wenn, dann allerdings in sehr viel düsterer Form als ich das bisher gelesen habe. Besonders hervorzuheben ist die geniale Erzählweise. Jedes Kapitel, die teils sehr lang sind, dann wieder ganz kurz, steht für sich allein. Mal springt man 20 Jahre vor, dann Jahrzehnte zurück. Dadurch dass verschiedene Personen zu Wort kommen, erhält man mit der Zeit einen recht komplexen Überblick. Das ist richtig gut gemacht. Man muss sich konzentrieren, denn es ist anspruchsvoll, aber dabei auch richtig fesselnd. Dieser Roman ist perfekt komponiert und brillant erzählt. Einzig einen deutlicheren Bezug zur damals herrschenden Militärjunta hätte ich mir noch gewünscht. Eins ist klar – mit diesem Roman bewegt man sich außerhalb jeglicher Komfortzone. Ich bin mir sicher, dass ich noch nie etwas vergleichbares gelesen habe. Ich bin fasziniert, aber auch erleichtert, dieser unglaublich düsteren Geschichte wieder entkommen zu sein. Ganz im Gegensatz zu den armen Protagonisten dieses Romans. Ein unvergessliches Leseerlebnis. 5 Sterne und eine dringende Leseempfehlung!