Wordworld
Victoria Schwab ist eine der Autorinnen, die ich schon seit einigen Jahren abwartend umkreise, entschlossen, dass ich ein Buch von ihr lesen möchte, aber unentschlossen, welches und wann. Eine lesebegeisterte Freundin hat mir die Entscheidung dann schlussendlich abgenommen, als sie mich beinahe dazu genötigt hat "Das unsichtbare Leben der Addie LaRue" auszuleihen. In der letzten Woche habe ich die Geschichte nun gemeinsam mit Sofia von Sofias @SofiasworldofBooks in einem Buddyread gelesen und bin nach dem Beenden nun schon seit mehreren Stunden in einer seltsamen Stimmung irgendwo zwischen Begeisterung, Melancholie, Weltschmerz und Leere gefangen (I think that´s called a book hangover...), welche jetzt dringend raus muss: "Addie räuspert sich. "So fängt die Geschichte an." Und er beginnt zu schreiben." Doch beginnen wir mal mit dem Cover. Auch wenn ich die schlichte englische Originalversion mit dem goldenen Sternbild für passender halte, finde ich die Umsetzung des Fischer Verlags atmosphärisch und einfach wunderschön. Zu sehen ist eine an ein Stundenglas erinnernde Glaskugel, die von goldenen Ornamenten gestützt in einem düsteren, magischen Wald steht. Durch die verzerrte Perspektive des Glases ist eine Gestalt in einem langen grünen Mantel zu sehen, die sich vom Betrachter abgewandt auf ein Licht zubewegt. Auch wenn man viele dieser Elemente erst versteht, wenn man die Geschichte gelesen hat, hat dieses Cover eine geheimnisvolle Anziehungskraft, die der der Geschichte stark ähnelt. "Die alten Götter mögen groß sein, aber sie sind weder freundlich noch barmherzig, sondern launisch und unbeständig wie Mondlicht auf Wasser oder wie Schatten in einem Sturm. Wenn du sie anrufen willst, gib acht: Überlege genau, worum du bittest, und sei bereit den Preis zu zahlen. Und ganz gleich, wie verzweifelt du bist, bete niemals zu den Göttern, die nach Einbruch der Nacht antworten." Mit dieser Warnung beginnt eine ausdrucksstarke, magische Geschichte von zeitloser Schönheit, die mich von der Grundidee her zunächst an Goethes "Faust" und Claire Norths "The Sudden Appearance of Hope" erinnerte. In ersterem wird ebenfalls ein Pakt mit einem dunklen Gott geschlossen, welcher zu einem turbulenten Leben voller Höhen und Tiefen führt und in letzterem wird eine von der Welt vergessene junge Frau zur Diebin. Ganz dem Titel folgend stellt V.E. Schwab jedoch weder den Teufelspakt noch die diebische Lebensweise der Protagonistin in den Vordergrund, sondern erzählt von einem unsichtbaren Leben, welches die Leerstellen in der (Kunst-)Geschichte Europas füllt. Dazu ist die Geschichte in sieben Teile eingeteilt (eines für jede Sommersprosse auf Addies Gesicht), welche jeweils mit einem Kurzportrait eines Kunstwerks beginnen, welches Addie auf ihrem Weg durch die Zeit inspiriert oder beeinflusst hat. Die sieben vorgestellten Kunstwerke sind dabei frei erfunden, aber wahrheitsgetreu den Stilrichtungen in den unterschiedlichen Zeiten nachempfunden. Dabei hat der Autorin nach eigener Angabe ihr Kunstgeschichtsstudium sehr geholfen. "Ich kann keinen Stift führen. Keine Geschichte erzählen. Keine Waffe schwingen oder Erinnerungen hinterlassen. Aber in der Kunst", fährt sie mit einem etwas weniger strahlenden Lächeln fort, "geht es um Ideen. Und Ideen sind hartnäckiger als Erinnerungen. Sie sind wie Unkraut, das immer den Weg ans Licht findet." Neben den Kunstwerken wird die Geschichte durch zwei Erzählstränge auf zwei Zeitebenen strukturiert. Auf der einen Seite lesen wir, wie Addie in New York 2014 den jungen Buchhändler Henry kennenlernt und wie diese schicksalshafte Begegnung ihr Leben verändert. Gleichzeitig verfolgen wir aber auch noch parallel einen zweiten Erzählstrang, der 1714 in Villon-sur-Sarthe in Frankreich seinen Anfang nimmt und in mehr oder weniger großen Zeitsprüngen chronologisch Addies Weg durch die Geschichte bis zum heutigen Zeitpunkt verfolgt. Besonders der 29. Juli, der Tag des Abkommens mit dem Schatten, bekommt dabei eine große Bedeutung und wird über die Jahrhunderte an unterschiedlichen Orten wiederholt. Die Geschichte lebt dabei von vielen Vorgriffen, Rückgriffen und Andeutungen, durch welche Vergangenheit und Gegenwart kunstvoll miteinander verwoben werden, ohne dass wir zu Beginn alles verstehen. Erst mit der Zeit werden die Rahmenumstände von Addies Fluch klar und wir verstehen, was sie nach New York geführt hat. Bis mich die Geschichte in ihren atmosphärischen Bann gezogen hat, sind deshalb auch einige Seiten ins Land gegangen. "Adeline ist sechzehn, und alle sprechen von ihr wie von einer Sommerblume, die man pflückt und in eine Vase stellt, deren einziger Zweck es ist, zu blühen und dann zu verrotten. Wie Isabelle, die von einer Familie statt von Freiheit träumt. Adeline hat beschlossen, lieber ein Baum zu sein, so wie Estele. Wenn sie schon Wurzeln schlagen muss, will sie wild wuchern, statt sich zurechtstutzen zu lassen, will allein stehen und unter freiem Himmel wachsen. Und nicht als Feuerholz enden, gefällt und zerhackt, in jemandes Kamin." Einmal gefangen, konnte ich aber nicht mehr aufhören mit Lesen. Das lag vor allem auch an V.E. Schwabs magischem Schreibstil, der langsam, schwergängig, aber so bedeutungsschwer, wie die ganze Geschichte, durch die knapp 600 Seiten führt. Der Schreibstil ist ein bedächtiger Fußmarsch in einer Welt, in der alle mit 200 Stundenkilometer über die Autobahn rasen - wer ein flottes Abenteuer erwartet, ist also definitiv fehl am Platz. Angereichert mit Metaphern, Vergleichen, wiederkehrenden Motiven und interessanten Gedanken über den Wert eines Lebens, der Liebe und der Kunst wird die gemächliche Geschichte zu einem Leseerlebnis, das man einfach nur genießen möchte! Wie sehr mich dabei einige Passagen oder kurze Fragmente erreicht haben, erkennt man auch daran, wie unheimlich viele Zitate ich mir beim Lesen markiert habe. Ich bin mir sicher, man könnte das Buch an einer beliebigen Stelle aufschlagen und würde auf der Seite ein zitierwürdiger Abschnitt finden. Ein großes Lob also auch an die beiden Übersetzerinnen, denen es gelungen ist, den Zauber des Originals zu bewahren. Meinen nächsten Reread (ja, es wird definitiv einen geben) werde ich aber in der Originalsprache angehen. "Geschichten sind eine Form der Selbstbewahrung. Um in Erinnerung zu bleiben. Oder sich selbst zu vergessen. Geschichten besitzen viele Gestalten: in Holzkohle, und in Liedern, in Gemälden, Gedichten, Filmen. Und Büchern. Bücher sind, wie sie erfahren hat, eine Möglichkeit tausend Leben zu führen - oder in einem sehr langen Leben Kraft zu finden". Transportiert durch den Schreibstil hat die Geschichte sehr viele unterschiedliche Gefühle in mir ausgelöst. Zunächst empfand ich Addies Fluch des Vergessens als sehr bedrückend. Für wenige Wochen wäre es denke ich sehr angenehm, sich so anonym durch die Welt bewegen zu können wie Addie, aber für einen längeren Zeitraum würde ich zugrunde gehen. Der Gedanke, keine Spuren hinterlassen, keine Beziehungen aufbauen und somit auch keinen Sinn im Leben finden zu können, hat mich tief erschüttert und mir die Entscheidung, ob ich an Addies Stelle Freiheit oder Einsamkeit wählen würde, sehr leicht gemacht. Neben der bedrückenden Vorstellung, sich für immer einsam und spurlos durch die Geschichte zu bewegen wie ein Geist, gingen mir auch einige sehr plastische Schilderungen des Leids, das eine einsame, mittellose und von der Welt vergessene Frau in der grausamen Männerwelt des 18. Jahrhunderts durchmachen muss, sehr nahe. Neben der Schwermut und dem Leid schwebt da zwischen den Zeilen aber auch ein intensiver Hunger nach Leben, eine Begeisterung für das Entdecken von Neuem und das dringliche Gespür für ablaufende Zeit mit, welche mich zugleich angenehm belebt und in Unruhe versetzt, sowie in mir einen sehr starken Lebensdrang ausgelöst haben. "Vergessen zu werden, denkt sie, ist ein bisschen wie verrückt zu werden. Man beginnt sich zu fragen, was real ist, ob man selbst real ist. Wie kann etwas real sein, wenn sich niemand daran erinnert?" Auch die Art und Weise, wie hier geschichtliche Ereignisse betrachtet werden, gefällt mir gut. V. E. Schwab erzählt nicht von bunten Abenteuern, Aufeinandertreffen mit schillernden historischen Persönlichkeiten, langen Weltreisen oder anderen Beifall heischenden Fantastereien, wie man sie hier vielleicht erwarten könnte. Stattdessen erzählt sie von einem realistischen Leben, von einer Frau, die sich jeden Schritt hart erarbeiten muss, von nostalgischer Rückkehr zum Heimatort und von vorsichtigen Schritten auf neuem Boden. Geschichtliche Ereignisse sind weniger der Mittelpunkt und mehr der grobe Rahmen dieser charakterzentrierten Erzählung. Im Fokus der Geschichte steht einzig und allein Addie LaRue. Durch die zweigeteilte Erzählweise lernen wir sie zum einen als erfahrene, weltgewandte, durch die Jahrhunderte aber auch abgestumpfte Frau kennen, zum anderen sehen wir ein junges Mädchen mit naiven Träumen, das noch einen weiten Weg vor sich hat. Erst mit zunehmender Seitenzahl verstehen wir gänzlich, was sie von dem einen zum anderen werden lassen hat, was sie auf dem Weg verloren und was dazugewonnen hat. Dabei ist sie mir von Seite zu Seite stärker ans Herz gewachsen. Ihr Hunger auf die Welt, der sie auch nach 300 Jahre und darüber hinaus Dinge finden lässt, an denen sie sich erfreuen kann. Ihre Sturheit und Entschlossenheit, sich weder vom Schatten noch von der Einsamkeit noch der Last der Jahre unterkriegen zu lassen. Und ihre Träume, die zu Ideen, die zu Inspiration, Kunst und Spuren werden - Fest steht, dass ich selten eine so vielschichtige und bewundernswert starke Figur kennengelernt habe! "An manchen Tagen graut ihr vor der Aussicht auf ein weiteres Jahr, eine weitere Dekade, ein weiteres Jahrhundert. In manchen Nächten liegt sie wach und träumt davon, sterben zu können. Aber dann erwacht sie und sieht das Orangenrosa der Morgendämmerung auf den Wolken oder hört die seufzenden Klänge einer Geige, die Musik und die Melodie, und ihr wird wieder bewusst, wie viel Schönheit es in der Welt gibt. Und sie will nichts davon entbehren." Neben Addies Entwicklung erzählt "Das unsichtbare Leben der Addie LaRue" auch in zweierlei Hinsicht eine tragische Liebesgeschichte. Zunächst ist da Henry - ein sensibler, manisch-depressiver Buchhändler mit Künstlerseele, welcher im Vergleich zu anderen Liebschaften und vor allem zum Schatten eher blass bleibt, auch wenn er in einigen Kapiteln sogar selbst erzählen darf. Zwischen Addie und Henry mag sich die Liebe nie so recht entfalten, obwohl sich beide aufgrund ihrer wohltuenden Ruhepause von ihren Flüchen zueinander hingezogen fühlen. Bis zum Ende wirken die beiden zwar zufrieden, gar glücklich, aber mehr wie eine freundschaftliche Zweckgemeinschaft als ein wirkliches Paar. Mit dem Schatten, dem Addie den Namen Luc gibt, ist es genau umgekehrt. Mit ihm verbindet sie Leidenschaft, tiefe Gefühle und eine jahrhundertlange Geschichte, ihre Beziehung ist aber vergiftet von ihrem Katz-und-Mausspiel, sodass keiner jemals Ruhe im jeweils anderen finden kann. Letzten Endes wird Addie durch beide Beziehungen geprägt, letztere ist es aber, die die Spannung anheizt und die Handlung voranbringt. Das liegt vor allem daran, dass der Schatten ein sehr interessant gestalteter Charakter ist, der wirkt, als hätte sich die Autorin bis zum Schluss nicht entscheiden können, ob der Schatten nun ein Monster oder ein Liebender ist, oder ob das vielleicht dasselbe bedeuten kann... "Luc blickt über die Schultern, lächelt fast und dreht sich nur so weit zu ihr um, dass er ihr die Hand reichen kann. Sie stolpert aus der Zelle, in die Freiheit, an seinen Körper. Und einen Moment lang ist da nur seine Umarmung, und er ist massiv und warm, ein Wall gegen die Dunkelheit, und es wäre einfach zu glauben, dass er real ist, ein Mensch ist und ihr Zuhause. Aber dann klafft ein Riss in der Welt auf, und die Schatten verschlingen sie." Auch wenn die beiden Liebesgeschichten also gegensätzlich erscheinen, haben sie drei Dinge gemeinsam. Erstens ist die Erotik sexy und stilvoll umgesetzt, ohne dass explizite Szenen vorkommen würden. Zweitens gefällt mir sehr gut, dass hier fast alle auftauchenden Figuren queer sind und auch die sonstige Diversität sehr selbstverständlich erscheint (Sofia und ich haben da ein bisschen drüber nachgedacht und sind zu dem Schluss gekommen, dass Geschlechterkategorien wohl keine Rolle spielen, wenn man so lange lebt und nicht Teil der Gesellschaft ist...). Und drittens ist bei beiden Liebesgeschichten von Beginn an klar, dass sie kein gutes Ende nehmen können. Ich habe beim Lesen lange überlegt, welches Ende es für Addie, Henry und Luc geben kann, hatte Angst vor dem Ergebnis und wollte fast nicht beim letzten Kapitel ankommen. Meine Sorge war jedoch unbegründet: was sich die Autorin für den Abschluss ihrer Geschichte überlegt hat ist einfach PERFEKT! Es ist kein Happy End im eigentlichen Sinne, aber auch nicht wirklich Unhappy - einfach ein perfektes, ausgewogenes Chaos zwischen den beiden Polen, welches auch vom Leben hätte geschrieben werden können! Zum Abschluss noch mein Lieblingszitat (die übrigen tollen Zitate findet ihr gesammelt auf meinem Blog): "Ihr Leben sei schwer und einsam gewesen, sagt sie, und trotzdem wunderbar. Sie habe Kriege durchlebt und Revolutionen und Wiedergeburten. Sie habe ihre Spur in zahllosen Kunstwerken hinterlassen, wie einen Daumenabdruck auf dem Boden einer Schüssel. Sie habe Wunder erlebt, den Verstand verloren, auf Schneewehen getanzt und sei am Ufer der Seine erfroren. Sie habe sich viele Male in den Schatten verliebt, aber nur einmal in einen Menschen. Und sie sei müde. Unsäglich müde. Aber ganz zweifellos habe sie gelebt. "Nichts ist nur gut oder schlecht", sagt sie. "Dazu ist das Leben viel zu kompliziert." Und dort in der Dunkelheit fragt er sie, ob es das wirklich wert gewesen sei. Wogen die Momente des Glücks die langen Phasen des Kummers auf? Wogen die Momente der Schönheit die Jahre des Leidens auf? Und sie dreht den Kopf, sieht ihn an und antwortet: "Immer." Fazit: "Das unsichtbare Leben der Addie LaRue" ist eine ausdrucksstarke, magische Geschichte von zeitloser Schönheit, welche vom atmosphärischen Schreibstil V.E. Schwabs, einer starken Hauptfigur, zwei tragischen Liebesgeschichten und interessanten Gedanken über den Wert eines Lebens, der Liebe und der Kunst lebt. Absolutes Jahreshighlight!