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joberlin

Posted on 23.3.2022

Ein doller Fund: Mehr als 500 alte Briefe findet die Autorin auf dem Dachboden ihres Hauses. Sie fängt an zu lesen und weiß, diese Zeugnisse muss sie literarisch verarbeiten und veröffentlichen. So nun geschehen in "Es ist schon fast halb zwölf", Zdenka Beckers neuem Roman. Den Schwerpunkt legt sie dabei auf die Briefes eines Ehepaares aus der österreichischen Provinz, das – zwecks besserer Arbeitsmöglichkeiten - in der Zeit des Nationalsozialismus nach Deutschland, nach Berlin kommt. Natürlich geht das nicht so reibungslos, wie hier zusammengefasst. Der Ehemann, glühender Befürworter des diktatorischen Regimes, stellt sich auch arbeitsmäßig in den Dienst der Kriegs- und Vernichtungsmaschinerie. Die junge Frau tut sich schwer in der großen Stadt, fern der Heimat, dem Naziregime steht sie kritisch bis ablehnend gegenüber. Sie ist vielmehr in das mysteriöse Verschwinden einer Angehörigen verstrickt. Oder doch nicht? Zdenka Becker hält die Spannung hierzu bis zum Schluss aufrecht. Überhaupt ist die literarische Umsetzung des "Briefgeheimnisses" gut gelungen. Das liegt zum einen an dem berührend einfachen und doch so tiefgehenden Briefwechsel. Eine bescheidene und - bei allen Geheimnissen doch - aufrichtige Lebenshaltung offenbart sich hier nach und nach. Zum anderen kommen natürlich auch Zdenka Beckers bewährt bekannte Formulierungsfähigkeit und fundierte Recherche dazu. Stilistisch ist der Roman überwiegend im Präsens geschrieben, das bewirkt ein Gefühl des "Direktdabeiseins", so als läse man mit ihr zusammen die Briefe, während sie die Geschichte – sozusagen im Hintergrund – für uns weiter entwickelt. Nicht nur die Briefe, der gesamte Roman erweist sich so als glücklicher Fund.

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