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Buchdoktor

Posted on 22.3.2022

Sabine reagiert ungehalten auf den Anruf einer Journalistin/Autorin. Mit der Presse will sie nichts mehr zu tun haben, das sollte die Anruferin wissen; denn wie damals würde diese Person ihr nur (wieder) das Wort im Mund herumdrehen. Sabine gehört zu einer Gruppe von Freunden, die zu einem Inhaftierten befragt werden soll, der die gesamte Geschichte hindurch namenlos bleibt. Ein Verlag möchte ein Manuskript bereitliegen haben, falls „er“ nach einem Wiederaufnahmeantrag freigelassen würde. Das Echo der Boulevardpresse würde das Buch dann ohne Werbeaufwand in die Bestsellerlisten spülen. Die Clique war in einem Einfamilienhaus-Viertel miteinander aufgewachsen. Sabine, Emilia, Benjamin, Sebastian und Till sprechen trotz aller Bedenken schließlich mit der Autorin und geben dabei mehr von sich preis, als ihnen bewusst sein wird. „Der Gefangene“, der als weitere Stimme selbst zu Wort kommt, hatte einen Onkel, der eine der ersten deutschen Einkaufs-Malls baute und damit zu erstaunlichem Reichtum kam. Kurz nach einem Streit zwischen Onkel und Neffen wird der Onkel von „ihm“ und einem weiteren Zeugen tot in seiner Penthouse-Wohnung aufgefunden. Der Neffe verhält sich anschließend reichlich bizarr – wenn man vom Tod des Onkels weiß. Die Ermittler finden weder eine Tatwaffe, noch Zeugen, noch verwertbare Spuren. Die Clique ist überzeugt, dass ihr Freund zur Härte der Tat und einer evtl. kühl-berechnenden Beseitigung von Spuren nicht in der Lage wäre, demnach unschuldig sein muss. Sie vertrauen dem deutschen Rechtsstaat. Mein Eindruck bestärkte sich jedoch, dass sie sich gegenseitig gut zuredeten, um ihre im Laufe der Ermittlungen und des folgenden Prozesses zunehmenden Zweifel an der Unschuld zu zerstreuen. Das Auf und Ab ihrer Emotionen aus Aufregung, Kampfbereitschaft, Erschöpfung, Schuldgefühlen und schließlich Hass auf die Justiz spiegelt sich noch einmal in den Gesprächen mit der Autorin. Die Figuren haben jede eine eigene Stimme und entwickeln sich unterschiedlich. Auf Sabines Ablehnung der Journalistin im ersten Kapitel aufbauend, wirkt die spätere Gruppendynamik auf mich als Lehrstück, wie ein Staat durch das Versagen seiner Justiz Durchschnittsmenschen in eine Rolle als Staatsfeinde treiben kann. Der Gefangene wiederum fragt sich, wer er eigentlich ist und ob die Öffentlichkeit nicht einen zweiten, von ihm abweichenden Menschen kreiert hat. –> Bitte das Nachwort erst am Ende des Buches lesen. Wie eine Straftat Angehörige und Freunde von Opfer und Täter betreffen und ihre Beziehungen sogar zerstören kann, das kombiniert Christoph Poschenrieder zu einem hochspannenden Lehrstück mit rein fiktiven Figuren, das sich jedoch an einen realen, vergleichbaren Fall anlehnt.

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