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Buchdoktor

Posted on 15.3.2022

Wie andere Lehrer auch am Chapelton College, einer britischen Eliteschmiede für Jungen, war Mr McCloud unberechenbar. In der kleinen Hafenstadt am Ärmelkanal, in der später der Zugang zum Kanaltunnel gebaut werden wird, spielt die Brücke über den Fluss eine besondere Rolle. Um sich das Leben zu nehmen, bräuchte man nur über das Geländer zu grätschen; die Brücke scheint geradezu dazu aufzufordern. Das Buchcover zeigt deutlich erwachsene Schüler vor einem typischen Gemäuer. Gemeinsam mit Assoziationen von Schwimmunterricht im Freien bei einstelligen Temperaturen und brutalen Aufnahmeriten älterer Schüler erzeugt die Abbildung ein beklemmendes Gefühl. Über Generationen hinweg zwangen Briten, die als Schüler selbst gequält worden waren, ihre Söhne an diese Kaderschmieden. Gerüche nach schmutziger Unterwäsche und beschmierte Klotüren schienen hier Generationen zu überdauern. Die Jungen hatten es nicht anders erlebt, als dass Lehrer sich ein Opfer herauspickten, es vor der Klasse verhöhnten und damit der Meute der Gleichaltrigen zum Fraß vorwarfen. Wer herausgepickt wurde, weil er schmächtiger oder fremder wirkte als die Masse, zog seine Gegner an wie eine blutende Wunde einen Hai. 30 Jahre später ist im Ort der Mord an einer jungen Frau aufzuklären. Der bisher einzige Verdächtige wohnt in ihrer Nachbarschaft und sitzt in Untersuchungshaft. Er lebt allein und war vor seiner Pensionierung als Lehrer am Chapelton legendär in seiner Exzentrik. Mehr als eine vage Verbindung hat die Polizei bisher nicht zu bieten, vertraut aber darauf, dass die Presse - gegen Bezahlung - von Zeitzeugen schon irgendwelchen Schmutz über Mr Wolphram ausgraben wird. Beim Verhör sitzen dem Pensionär zwei gegensätzliche Ermittler gegenüber: Gary und sein älterer Kollege, der seinen Namen lange nicht preisgibt. Der Icherzähler hat Gary außer langjähriger Berufserfahrung einen Studienabschluss in Kriminologie und Psychologie voraus. In Garys Haut würde ich in dieser Situation ungern stecken. Der Erzähler, der mit geradezu poetischer Beschreibung grauenhafter Jugenderlebnisse herausragt, kann nicht lange verbergen, dass er Wolphram kennt - aus seiner Schulzeit am Chapelton. Seine nüchterne Art, stets nur das Allernötigste von sich preiszugeben, hat mich in die Geschichte gezogen und nicht wieder losgelassen. Zwischen Gegenwart und Vergangenheit wechselnd, erzählt McGuiness mit wechselndem Focus auf eine kleine Schülergruppe, den Mordfall, pressegestützten Rufmord und pädophil geprägte Gewalt an einer britischen Privatschule. Diese abstoßende Struktur verknüpft er ausgerechnet mit dem Auftauchen eines gigantischen Fettbergs in der Londoner Kanalisation 2019 - als Symbol für den Schmutz, den die Polizei zu beseitigen hat. „Den Wölfen zum Fraß” lässt sich lesen als fesselnder Kriminalfall oder als Sozialstudie der britischen Oberschicht; mich haben jedoch die Figur des Ex-Schülers als Ermittler und sein herausragendes sprachliches Talent am stärksten beeindruckt.

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