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Buchdoktor

Posted on 6.3.2022

Spätestens der Tod von George Floyd am 25.5.2020 markierte auch für uns Deutsche die Grenze zwischen der Relativierung von Rassismus (reagiert eine Person mit rassistischen Erfahrungen evtl. übersensibel?) und der Einsicht, dass institutioneller Rassismus wie im Fall Floyd kein Einzelfall ist, sondern vorsätzlich, bewusst und historisch gewachsen geschieht. Tupoka Ogettes zweites Buch gliedert sich in ihren Erfahrungsbericht als BIPoc und Mutter Schwarzer schulpflichtiger Kinder, und jeweils ein Kapitel zu „White Fragility“, zur persönlichen Umsetzung von Rassismus-Kritik und zu acht Bereichen, in denen wir mit großer Wahrscheinlichkeit rassistische Strukturen erleben, auch wenn gerade diese Institution darauf beharren werden, dass es in ihrem Bereich keine rassistischen Hierarchien geben kann, wenn darin keine Einzelperson rassistisch eingestellt wäre. Die Annahme, Rassismus wäre konkretes, bewusstes Handeln einer Einzelperson gegenüber einer anderen konkreten Person, müssen Ogettes Leser/innen gleich zu Beginn in den Schrank hängen. Rassistisches Denken und Handeln ist historisch gewachsen (was sich problemlos aus der Geschichte des Kolonialismus und religiöser Missionierung ableiten lässt), setzt eine privilegierte, dominante Gruppe voraus, die die Bezeichnung der diskriminierten Gruppe bestimmt und eine „Unterstützer-Szene“ die gemeinsam das Verhalten billigt und relativiert. Unter der Überschrift „White Fragilitiy“ führt Ogette ein gutes Dutzend abwehrende Verhaltensweisen auf, die uns hindern, rassistische Strukturen klar zu benennen, weil wir uns bisher zu den Guten gezählt haben. Vom Othering, Derailing, Tokenism, White Saviourism, Racial Profiling und Whataboutism geht es zur Angst, Privilegien einzubüßen – und zum rassistischen Whitesplaining, dem als Mansplaining vertrauten Erklärzwang. Sowohl den historischen Diskurs (wie Hautfarbe zur Rechtfertigung rassistischer Strukturen einst Religiosität als Maßstab ablösen musste) fand ich hier aufschlussreich, wie auch am Beispiel des „alten weißen Mannes“ die Einsicht, dass Spott allein keine rassistische Haltung ist, wenn er sich nicht auf die genannten Strukturen stützen kann. „Tone Policing“ (hier gemeint als Abwehr von Rassismus-Kritik) kennen Eltern, wenn Kinder lautstark über ungerechte Behandlung klagen und wir unbewusst reagieren mit „ich höre dir zu, aber schrei nicht so“. Die Tonlage scheint Erwachsenen hier kritikwürdiger zu sein als die erlebte Verletzung. Verknüpfungen wie diese verstärken bei mir Verhaltensänderungen, deren Notwendigkeit mir längst bewusst ist. Dass ich für eine „alte Sache“ einen neuen Wortschatz nutzen soll, wirkt auf mich jedoch als unnötige Schwelle. (Als Kritik am Wortschatz akademisch gebildeter, antirassistischer Eliten, nicht als Kritik am Buch zu sehen.) Im beruflichen Zusammenhang, wenn Englisch evtl. längst Unternehmenssprache ist, habe ich damit kein Problem. Im Bereich von Familie und Erziehung würde ich gern möglichst viele Menschen erreichen, gerade weil ich aus bi-nationalen Familien den Wunsch nach leicht lesbaren Sachbüchern kenne. Tupoka Ogette ist als langjährige Trainerin für interkulturelle Kommunikation und Online-Dozentin zu Rassismus-Kritik erfahren in Abwehrmechanismen ihrer Teilnehmer. Als Betroffene ist und will sie nicht objektiv und nicht neutral sein. Bildhaft und temperamentvoll formuliert, richtet sich ihr Buch ausdrücklich an Weiße, an Eltern Schwarzer Kinder, an Partner und Kollegen. Auch wenn die Bereiche, in denen Anti-Rassismus-Arbeit weiter nötig bleibt, notgedrungen nur kurz angerissen wurden, bietet die Autorin genug Ideen für den „antirassistischen Methodenkoffer“. Zu nennen ist im Kontext Familie, Schule, Kindergarten: Behäbigkeit von Institutionen als Schwelle, diversitätsbewusstes Spielzeug (der berühmte Buntstift in „Hautfarbe“), sowie Sichtbarkeit in Kinderliteratur und Lehrbüchern. Mit farbig hinterlegten Kästen für Wichtiges, To-Do-Listen und Positiv-Listen ist „Und jetzt du“ ein optisch und methodisch gelungenes Buch einer erfahrenen Teamerin, das ich gern zur Hand nehme. Wie bei vielen Sachbüchern wünsche ich mir, dass es niederschwelliger wäre.

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