Gabriele Feile
Ganz schön gewichtig Pascal Mercier ist ein Dichter. Und ein Denker. Und ein Wortzauberer. „Das Gewicht der Worte“ ist das erste Buch, das ich von ihm gelesen habe, und es hat mich recht schnell in seinen Bann gezogen. Auch wenn der Anfang etwas anstrengend ist, denn die Erzählweise ist alles andere als linear. Es beginnt mit der Ankunft des Protagonisten in London, die gemischte Gefühle mit sich bringt. Diese „mixed emotions“ sind eine Konstante in diesem Buch. Und zwar nicht nur die Gefühle von Simon Leyland, sondern auch von allen anderen der noch lebenden Personen, die man beim Lesen kennenlernt. Noch im ersten Viertel des Buches erfahren wir, was schon auf dem Buchdeckel steht: Es gab einen ärztlichen Irrtum. Doch dieser ist zum Zeitpunkt der Londonreise bereits aufgeklärt. Er hat nämlich im italienischen Triest stattgefunden. Ein Wendepunkt Nach und nach enthüllt der Autor uns das Leben des Sprachgenies Leyland, der sich einmal vorgenommen hat, alle Sprachen zu können, die am Mittelmeer gesprochen werden. Er übersetzt anspruchsvolle Bücher in verschiedene Sprachen und leitet einen Verlag, als seine Frau stirbt. Mit der Diagnose, die einen baldigen Tod voraussagt, ändert sich alles in seinem Leben. Und dennoch bleibt vieles bestehen. Denn: Die Menschen, die Simon als Freunde bezeichnet, waren zum Großteil schon vor der Diagnose da. Ein paar jedoch lernt er neu kennen. Und all die Menschen sind ganz besondere Persönlichkeiten: Sie haben alle eine Geschichte, die für je ein eigenes Buch ausreichen würde. Ein wenig können sich hier Lesende vielleicht fragen, wie realistisch das ist. Um im nächsten Moment zu denken: sehr! Denn wenn wir ehrlich sind, hat jeder Mensch eine fantastische Lebensgeschichte. Sie gehört halt nur auch so erzählt. Die Reflexion Leyland nutzt sein „neues“ Leben zu einer tiefen Selbstreflexion seines „alten“ Lebens. Und ähnlich ergeht es seinen Freunden und sogar seinen Kindern. Das kann beim Lesen etwas überwältigend sein, falls man selbst noch nicht an dieser Stelle des eigenen Lebens angekommen ist. Zumal wir viele Dinge nicht nur einmal erfahren, nämlich dann, wenn es Simon erlebt. Nein, Simon schreibt in Briefen an seine tote Frau darüber, was er erlebt hat, und wie er es mit etwas Abstand einordnet. Es ist wie ein Tagebuch, das er an seine Frau adressiert. Aufgrund dieses Stilmittels ist das Buch „Das Gewicht der Worte“ wohl das erste, das ich nicht Kapitel für Kapitel gelesen habe. Stattdessen habe ich es immer dann weggelegt, wenn Leyland gerade wieder dabei war, einen Brief zu schreiben. So habe ich mit ihm zusammen reflektiert –später und mit etwas Abstand. Mir hat das gefallen, doch ich kann verstehen, wenn andere das als Wiederholung sehen. Es passiert nicht viel, und doch so vieles Das Buch zieht sich auf über 570 Seiten und es passieren keine wirklich aufregenden Dinge. Zumindest werden sie nicht so erzählt. Doch es passiert sehr viel Bewegendes, vor allem im Inneren der Figuren. Selbst das Ende (wieder in London) ist unspektakulär, und dennoch war ich traurig, als ich das Buch beendet habe. Das lag ganz sicher an der wundervollen Sprache, die Leyland benutzt. Er verwebt deutsch mit Englisch, Italienisch, Russisch und noch vielen anderen Sprachen und lässt die Protagonisten (die dank ihrer multi-kulti-Herkunft fast alle mehrsprachig sind) ausgiebig über Sätze und Worte sprechen, philosophieren, ja gar debattieren. Fazit Alle, die Sprachen lieben und sich an Worten, ihrem Klang und ihrer Bedeutung begeistern können, haben an diesem Buch eine wahre Freude. Und werden dazu angeregt, in den Spiegel zu schauen. Also nach innen.