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Buchdoktor

Posted on 28.2.2022

Die Geschichte der Seuchen und Pandemien hatte ich bisher stets für ein medizinhistorisches Thema gehalten. Laut Richard Evans handelt es sich jedoch um ein sozialhistorisches Thema, das von den Lebensbedingungen und vom politischen System nicht zu trennen ist. Hamburgs Cholera-Ausbrüche wären kein Zufall, sondern ein Produkt u. a. menschlichen Handelns, gesellschaftlicher Ungleichheit und politischer Unruhe, …“ (S.819). Ignoranz und Geiz der Stadtregierung, persönliche Schwächen Einzelner und katastrophale Wohnbedingungen boten dem Cholera-Erreger eine ideale Brutstätte. Wer am Fluss lebte und arbeitete, musste sich zwangsläufig infizieren, wenn die Toilettenabflüsse direkt in Fleete und in den Fluss führten, aus dem Trink- und Brauchwasser entnommen wurde. Wer mit 8 Personen und einem Untermieter in 2 Räumen lebte, infizierte sich ebenso leicht, wie die, die Kranke pflegten, transportierten oder Tote begruben. Dass die bestimmenden alten Herren Kanalisation und städtische Wasserversorgung nicht finanzieren wollten, wirkt mehr als zynisch, wenn sie selbst nicht unter diesen Bedingungen lebten und genug Dienstpersonal hatten, um Trinkwasser vom Wasserwagen heranzuschleppen oder Leitungswasser auf dem Kohleherd abzukochen. Wer als Stadtregierung nicht aus früheren Epidemien lernt und den erneuten Cholera-Ausbruch vertuscht, muss sich nicht wundern über Zulauf für Arbeiter-Bewegung und Sozialdemokratie. Schon in der Einleitung drängte sich mir hier ein Vergleich zwischen Hamburg im 19. Jahrhundert und der Welt während der Corona-Pandemie ab 2020 auf. Erstaunlich, wie viel die Hansestadt mit ihrem uneffektiven Zwei-Kammern-System 1892 aus ihren Fehlern hätte gelernt haben können - und tragisch, wie sich ihre Fehler bis heute wiederholen. Anhand ungewöhnlich umfangreicher Quellen und Statistiken zur letzten Hamburger Cholera-Welle 1892 zeigt Evans, wie hanseatischer Überlegenheitsmythos, eine überforderte, rein merkantil handelnde Stadtregierung, die Nachtwächterstaat-Ideologie, krasse Standesunterschiede und Knausern am falschen Ende Hamburg 1892 ein Haushaltsdefizit von 6,2 Millionen Mark bescherten. Warum Hamburg als einzige Stadt noch 1892 einen Cholera-Ausbruch erlebte und warum die Stadt weder mit Berlin als Großstadt noch mit Bremen als Hafenstadt vergleichbar ist und daher ein ideales Studienobjekt für Evans war, werden Sie hier erfahren. Finanziert wurde in Hamburg nur, was Handel und Hafen nützte. Eine Universität, Krankenhäuser, Pflegepersonal, Fuhrwerke zum Krankentransport, Wasserwerke oder ein Schlachthof hatten vor 1892 nicht dazu gehört. Als ebenso fatal sollte sich erweisen, dass ein staatliches Gesundheitswesen samt Berufsbeamtentum nach langem Zögern erst mit der Einstellung auswärtiger Ärzte möglich wurde, die an preußischen oder bayrischen Universitäten studiert hatten und für Hamburger Verhältnisse aufrührerische Ansichten mitbrachten. Die Auseinandersetzung zwischen von Pettenkofers hartnäckig vorgetragener Miasmen-Theorie und Kochs Stäbchenbakterien zeugt in tragikomischer Weise, wohin mangelnde Bildung einer Stadtregierung führt. Nach der Methode Leugnen, Tricksen, Knausern erklärten die Hamburger z. B. ganze Züge mit russischen Auswanderern für gesund, brachten die bereits infizierten Menschen auf Auswandererschiffe und hatten vor, sie den USA unterzujubeln, um nicht für sie aufkommen zu müssen. Die offensichtliche Schwäche einer Stadtregierung, die mit Kaufleuten, Reedern und Juristen der Stadt verwandt und verschwägert war, jedoch von nur 10% der Bevölkerung gewählt war (das Wahlrecht war an Grundbesitz und Vermögen geknüpft), lässt die kommende Katastrophe ahnen. Aus der Perspektive dieses Jahrhunderts mag Hamburger Politik des 19. Jahrhunderts eine trockene Thematik sein, aber die weiteren Kapitel über Lebensbedingungen in verschiedenen Hamburger Stadtteilen, über Hafenarbeiter, Dienstmädchen, die Lebenschancen von Kindern, die Rolle der Sozialdemokratie uvm. machen den theoretischen Einstieg mehr als wett. Allerdings hätte mich noch brennend interessiert, warum 1892 eine cholerakranke Frau, die in ein Krankenhaus eingeliefert wurde, so viel schlechtere Überlebenschancen hatte als ein Mann in vergleichbarem Zustand. Geschlechtergerechte Medizin war 1987 leider noch kein Thema … Evans kann zwischen Zahlen und Diagrammen Geschichte erstaunlich spannend in Persönlichkeiten und Einzelschicksalen erzählen. Er nimmt deutlich Partei für die kleinen Leute und kann schwer verbergen, dass er kein Freund des Großbürgertums ist. Nicht nur seine brillante Studie beeindruckt, sondern die Menge an Statistiken, Zeitungsartikeln, persönlichen Aufzeichnungen und Fotos, die er auswerten konnte. --- Diese Ausgabe Das englische Original erschien nach 10jähriger Recherche 1987, die deutsche Neuausgabe wurde von Evans 2021 durch ein neues Vorwort ergänzt. Die Rechtschreibung blieb nach Angabe des Verlags unverändert.

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